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Fakten zur Aufführung 

BABYLON
(Jörg Widmann)
27. Oktober 2012
(Uraufführung)

Bayerische Staatsoper


Points of Honor                      

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Klanggewaltige Bilderflut

Wenn der Intendant vor der Aufführung auf die Bühne tritt, dann hat das meist nichts Gutes zu bedeuten. In diesem Fall verkündet Nikolaus Bachler die traurige Nachricht, dass an jenem Tag Hans Werner Henze im Alter von 86 Jahren gestorben ist. Jener Komponist, der nicht nur für die Stadt München im Allgemeinen und für die Bayerische Staatsoper im Speziellen einen enorm wichtigen Stellenwert eingenommen hat, sondern auch Lehrer des Komponisten des Abends war. So ist es Jörg Widmann ein großes Anliegen, diese Uraufführung seinem großen Mentor zu widmen. Doch viel Zeit bleibt nicht, um sich in diesem wundersamen Gemütszustand zwischen Trauer und Rührung zu verlieren, denn dann beginnt die Show der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus. In den dann folgenden gut dreieinhalb Stunden erlebt man ein multimedial komplexes, bildgewaltiges, bisweilen das Auge überforderndes Gesamtkunstwerk aus Video, Bühne, Kostüme und Musik, so dass man verloren wäre, wenn man nicht vorbereitet ist.

Also, um was geht es? Die zwei elementaren Assoziationen zu Babylon – der Turmbau und die Sprachverwirrung – sind nicht Teil der Handlung, sondern spiegeln sich in der Musik wider. Widmanns Partitur verkürzt und verdünnt sich also in vielerlei Hinsicht gegen Schluss hin. Dazu prallen unterschiedlichste musikalische Welten auf- und ineinander, fast die ganze Zeit herrscht eine Simultaneität der Klangfarben, die beeindruckt, berauscht. Schauplatz ist das mythische Babylon, im Mittelpunkt steht die Liebesgeschichte der Babylonierin Inanna, Priestergöttin im Tempel der freien Liebe, und dem im Exil lebenden Juden Tammu. Als dieser geopfert wird, steigt Inanna in die Unterwelt und holt Tammu zurück, um sich mit ihm zu vereinigen – ihr Verstoß gegen ein vorherrschendes Gebot ist gleichzeitig der Beginn einer neuen Weltordnung ohne Opferritus, die auf Versöhnung zwischen Himmel und Menschen basiert…

Dass der Abend nicht zu einem lauen Abklatsch der alten Leier amor vincit omnia wird, hat mehrere Gründe. Die Inszenierung von Carlos Padrissa und seinem Team will nicht intellektueller Zeigefinger sein, genauso wenig Doppeldeutigkeit und symbolistischen Tiefsinn vortäuschen. Sie ist, technisch meisterhaft umgesetzt, in vielen Momenten schlicht großes Theater, denn: sie bietet stimmige - und oft überwältigende - Bilder und Stimmungen zur manchmal doch sehr komplex-verqueren und mühsam-schleppenden Handlung aus der Feder des Philosophen Peter Sloterdijk. Die Bausteine des bespielbaren Turms sind einzelne Buchstaben, die immer wieder anders zusammengesetzt werden. Gleichzeitig wird die ganze Zeit auf die große Leinwand im Bühnenhintergrund projiziert, seien es wabernde dreidimensionale Formen, fliegende Buchstaben, Gesichter, Schatten, Zuckungen oder sich windende Körper. Durch diese Flut an Bildern schmiegt sich Padrissa an die Musik an, die den Zuschauer mindestens ebenso herausfordert. Aus dem Orchestergraben wabert, leuchtet, schmilzt, haucht und kreischt es; es wird getanzt und tonal versöhnt. Im dritten Bild, mit seinem orgiastischen, karnevalsartigen Treiben, wartet Widmann etwa mit einem veritablen Stilmix auf: Da trifft bayerische Volksmusik auf orientalische Rhythmen, Musical auf Choral, Sprechgesang auf Koloratur. Doch gerade hier wäre weniger mehr gewesen, die Szene gerät viel zu lang und wirkt unangenehm plakativ. Dabei kann Widmann doch selbst über eine derart breite Palette an Klangfarben und Nuancen zurückgreifen, um Charaktere herauszuschälen, Stimmungen zu schaffen. Am besten gelingt ihm das mit der Person der Inanna, für die Anna Prohaska gewonnen werden konnte, was sich als Glücksfall herausstellt. Die junge Sopranistin ist eine wunderbare Sängerdarstellerin, sie lebt diese verführerische Priesterin und bietet ein enormes Spektrum ihres Könnens zwischen lupenreinem, koloratursicherem Gesang, Pfeifen, Gurgeln, Sprechen und Tanz. Ihr Bühnenpartner Jussi Myllys als Tammu vermag da nur schwer mitzuhalten. Unter der rundum erfreulichen Sängerleistung sei noch Claron McFadden als Seele erwähnt, die mit sehr hellem, durchschlagendem und nie schneidendem Sopran das Publikum zu bannen vermag.

Kent Nagano behält am Premierenabend souverän die Übersicht in dieser teuflisch-dicht gewobenen Partitur. Fabelhaft direkt und schlank, mit einer Coolness, die ihm ja leider die wenigsten zutrauen, animiert er das Staatsorchester zu Höchstleistungen. Keine Frage, ein Kraftakt liegt da hinter ihnen, dieses gewaltige Werk aus der Taufe zu heben: ein großer Erfolg für den viel gescholtenen, scheidenden GMD. Mag man bei so manchem an Raumschiff Enterprise gemahnenden Regieeinfall, manch Phalloi oder dem Babylon-Choral in reinster Quintfallsequenz schmunzeln, so bleibt am Ende doch ein anerkennendes Staunen und Überwältigtsein: einige zaghafte Buhs für die Regie, ansonsten einhelliges Bravo.

Heinrich Zänker

Fotos: Wilfried Hösl