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Fakten zur Aufführung 

LA PÁGINA EN BLANCO
(Pilar Jurado)
25. Februar 2011
(Uraufführung: 11. Februar 2011)

Teatro Real Madrid


Points of Honor                      

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Hörbeispiel 1

Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie die Arie der Aisha.


Hörbeispiel 2

Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie ein weiteres Klangbeispiel.


Hörbeispiel 3

Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie Final del dúo y Coro sueño.

 

 

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La página en blanco

Mit La página en blanco der spanischen Komponistin Pilar Jurado kommt ein Werk auf die Bühne des Teatro Real in Madrid, das die immerwährenden Opernthemen von Liebe, Leidenschaft und Tod aus der heutigen Lebenswelt heraus interpretiert. Fragen der Individualität und Selbstbestimmung, der schöpferischen Kreation und Inspiration stellen sich im Zeichen von Web 2.0, im 'second life' der virtuellen Welten und der neuen Technologien, in kybernetischen Mensch-Maschine-Verbindungen mit all den doppelgesichtigen Vor- und Nachteilen eben anders.

Pilar Jurado (* 1968 in Madrid) ist eine Universalmusikerin und als Sopranistin, Komponistin, Dirigentin und Musikwissenschaftlerin fest im Reich der Musik verankert. Als Interpretin vertritt sie ein Repertoire vom Barock bis hin zum Zeitgenössischen, hat neben Aufnahmen bei verschiedenen Firmen auch eine CD mit Koloraturarien von Mozart über den Belcanto bis zu Richard Strauss und Igor Stravinsky auf ihrem eigenen Label TransÓpera Digital produziert. Jurado hat zahllose Werke ur- und erstaufgeführt, darunter Stücke von Luis de Pablo, Pierre Boulez, Beat Furrer, Brian Ferneyhough, Unsuk Chin oder James Macmillan. Ihre Kompositionen wurden seit 1992 mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Premio Iberoamericano Reina Sofía de Composición oder dem Premio Cristóbal Halffter.

2008 erhielt Jurado noch unter der Ägide des vormaligen Intendanten Antonio Moral den Kompositionsauftrag von Spaniens immer noch avanciertestem Opernhaus. Damit ist sie die erste Frau, deren Werk auf die Bretter des Teatro Real kommt, noch dazu mit der Besonderheit, dass sie auch das Libretto selber verfasst hat und eine der Hauptrollen selber singt. Dem Haus ist Jurado seit 1997 als Solistin in der Wiedereröffnungsinszenierung von Fallas La vida breve verbunden, Auftritte in Le Nozze de Figaro, Don Quijote (C. Halffter) und La señorita Cristina (de Pablo) schlossen sich an. Gérard Mortier, derzeitiger Intendant des Teatro Real, nahm sich in der Nachfolge des Projektes engagiert an und band noch in der Entstehungsphase ein junges deutschsprachiges Produktionsteam ein: den Bildhauer, Maler und Bühnenbildner Alexander Polzin, den Regisseur David Hermann und den Dirigenten Titus Engel.

Das Bühnenbild der Uraufführung nimmt Bezug auf die dreiteilige (altarbildförmige) Bildanlage von Hieronymus Boschs Gemälde Der Garten der Lüste (1500), aufbewahrt im Prado. Die beiden Außenflügel, links das Paradies und rechts die Hölle, dienen als Projektionsfläche für eine Videoanimation (Claudia Rohrmoser) mit Motiven aus der so phantastischen wie rätselhaften Figurenwelt des Gemäldes. Die Mitte - in der Sprache des Triptychons ist es der lebensweltliche Teil der Garten der Lüste - gibt im geöffneten Zustand ein weißes Zimmer frei, den Hauptspielort der Oper. Damit ist die Bühne sehr sängerfreundlich auf kammerspielartiges Format verkleinert. Wir befinden uns im schicken, weiß und kalt eingerichteten Studio des Komponisten Ricardo Estapé (souverän: Otto Katzameier), eine Schrankwand mit ausgestopften Vögeln - ein weiteres Bosch-Zitat - und ein Computer bilden das Interieur. Ricardo befindet sich in einer biografischen Krise, nach einer gescheiterten Ehe mit Marta (kalt, fordernd und herrisch: Natascha Petrinsky), die ihm das Leben mit einem Besitzverteilungskampf im Scheidungskrieg auch weiterhin schwer macht, nicht zuletzt, indem sie Anspruch auf die Verwertungsrechte seiner Kompositionen erhebt. Jetzt ist das Leben mehr Last als Lust, zumal Operndirektor Gérard (als eiskalter Profi: Hernán Iturralde) auf die Fertigstellung der neuen Oper insistiert. Während Ricardo die Trennungskrise nervt und die weißen Seiten der Notenblätter ihn anstarren, erhält er eine E-mail - bling, bling ertönt es lautmalerisch im Orchester -, die ihm, ganz irritierend, dieselbe leere, weiße Seite mailt, vor der er gerade sitzt, denn die stille Einsamkeit vor Papier und Rechner führt Ricardo nicht wirklich zu Resultaten. Thema seiner Oper ist die Apokalypse des Johannes und die zweite Szene von La página en blanco gibt Einblick in ein Fragment seiner Komposition für Chor und Orchester.

Operndirektor Gérard drängt Ricardo die Prima Donna seines Opernhauses auf - ein Ansinnen, das Ricardo erst brüsk abweist, nach ihrem ersten Besuch dann aber hymnisch begrüßt. Die Sopranistin Aisha Djarou ist die Rolle, die Jurado quasi für sich komponiert hat (Djarou ist ein Anagramm ihres Nachnamens) und die sie eindrucksvoll ausfüllt. Wie das Libretto so spielt: die Schaffenskrise ist beendet, denn ohne Emotion keine Kreation, so die These, das Gehirn braucht ein wirkliches Stimulanz, um Neues hervorzubringen. Kennzeichen des Menschseins sei die Emotionalität und dabei ist die Liebe die 'positivste Energie des Universums'.

Der Einbruch der unheimlichen, virtuellen Gegenwelt ereignet sich noch weitere Male. Verzweifelt und ratlos steht Ricardo vor dem Phänomen, dass Teile seiner Partitur offenbar extern zugänglich sind und ihm als Zeichen fremder Macht wieder zugespielt werden, obwohl niemand außer ihm Zugang zu dem Werk hat. Ricardo vermutet einen Trojaner, der seinen Rechner ausspäht. Verantwortlich scheint - die Inszenierung legt es nahe, das Libretto lässt es offen - Ricardos Freund Xavi, ein Professor für Kybernetik (mephistophelisch: Nikolai Schukoff), der die Versuchungen und das Allmachtsstreben avancierter Technologie verkörpert. Er ist es auch, der die Sopranistin durch einen Sängerroboter, den Cybersänger Kobayashi, (ein Countertenor, superpräsent gesungen von Andrew Watts) ersetzen will. Dieser ist zugleich Double des Komponisten, der die Gedanken des Komponisten lesen und die Partitur singen kann, wenn Ricardo sie gerade entstehen lässt. Schließlich sind alle weißen Seiten beschriftet und Ricardos Oper beendet - doch statt eines happy ends nimmt die Handlung eine unerwartete Volte. In Szene sieben erleben wir Ricardo als menschliches Wrack im Souterrain des Bühnenbildes in einem Laboratorium. Nach einem Unfall in ein irreversibles Koma gefallen, ist der Komponist angeschlossen an zahllose Kabel und Schläuche, an einen Stuhl gefesselt. Xavi hat sein Gehirn an einen Rechner angeschlossen, um die letzten Reste des kreativen Impulses abzusaugen. Operndirektor Gérard, Experimentalbiologe Xavi, Ex-Gattin Marta mit neuem Freund Ramón (José Luis Sola) triumphieren mit der gedruckten Opernpartitur und offenbaren nur kaltblütiges Eigen- und Verwertungsinteresse gegenüber den menschlichen Resten Ricardos, während Aisha sich weigert, weiterhin als Stimulanz herzuhalten. In einer letzten Arie erlöst sie Ricardo, indem sie ihm die Kabel abnimmt und damit auch die finale Phase der Kreativität beendet. Die vorherigen Szenen erscheinen jetzt als Komplott. Vielleicht etwas zu ausgeklügelt, erweist sich Jurados Libretto am Ende als Cybersciencefictionthriller im enigmatischen David Lynch-Stil.

Der Titel La página en blanco hat verschiedene Facetten. Einerseits beschreibt er das Problem des Anfangens, die Angst vor dem Werk und dem Risiko eines möglichen Scheiterns. Vielleicht ist es auch Selbstporträt der Komponistin als Komponistin mit dem Kunstgriff der Oper in der Oper. Andererseits bedeutet es für Jurado auch Grundsätzliches. Im Prolog des Werkes wirft der Chor die Frage auf, ob der Mensch sein Schicksal selbst bestimmt oder ob er determiniert ist. Die Zukunft sei eine weiße Seite. Es ist das Ausgeliefertsein, das überwiegt, wenn Aisha im Finale singt: La realidad se escribe sola... y solos estamos ante ella.

Der im Prinzip spannende Plot ist verbunden mit einer attraktiven, komplexen und anspruchsvollen Theatermusik. Mit Arien, Duetten, einem Quintett, Rezitativen, Dialogen und Zwischenspielen benutzt Jurado formale Elemente der traditionellen Oper für eine zeitgenössische, aber historisch grundierte Partitur. Die Komposition ist streicherdominiert, mit heftigen Schlagwerkeinwürfen, statisch-abtrakt-oratorienhafte Elemente alternieren mit handlungsgetriebenen, schnellen Phasen. Ein wirkungsvoll eingebauter Chor, in dieser Inszenierung eingesetzt aus dem off des Orchestergrabens, sorgt mit auf Latein gesungenen Texten für die apokalyptischen Töne aus der Offenbarung des Johannes. Wohlinformierte Allusionen etwa an Ligeti, Boesmans, Messiaen, aber auch an süffige Strauss-Partien, Rückgriffe auf Renaissance und die spanische Musiktradition, spiegeln Repertoire und Vorlieben Pilar Jurados wieder, verknüpfen Alt und Neu und 'versöhnen' Tradition und Avantgarde.

Die Partitur ist bei Titus Engel in sehr guten Händen. Es ist ein sorgfältiges und konzentriertes Dirigat mit Sinn für Atmosphären und Spannungen, das auf große Transparenz abhebt. Als wäre das Neue bereits das Selbstverständliche spielt das Titularorchester des Teatro Real, Orquesta Sinfónica de Madrid, in mittelgroßer Besetzung sowie der unter Mortier neu zusammengesetzte Titularchor des Teatro Real, der Coro Intermezzo, unter der neuen Leitung von Andrés Maspero. Die Solisten sind ohne Ausnahme in Bestform, die Diktion auch der nichtspanischsprachigen Sänger ist exzellent und textverständlich. Insgesamt ist es eine Aufführung von hoher Kohärenz und Stimmigkeit, der man weitere Aufführungszyklen auch anderen Orts wünscht.

Das Madrider Publikum reagierte gespalten: überaus positiv und enthusiastisch mit vielen Bravi auf der einen Seite, erbarmungslos desinteressiert und kalt auf der anderen. Doch auf neue Töne wird man sich auch weiterhin einrichten müssen: Noch in dieser Spielzeit gibt es als Übernahme von der Ruhrtriennale die Kabakov-Inszenierung von Olivier Messiaens Saint François d' Assise, auch die nächste Saison hat mit Ainadamar von Osvaldo Golijov (UA 2003) Zeitgenössisches zu bieten. Und ein neues Werk ist schon bestellt: Die Trägerin des Spanischen Musikpreises Premio Nacional de Música 2010, Elena Mendoza, arbeitet an einer Oper auf Texte des Uruguayers Juan Carlos Onetti für das Jahr 2013.

Dirk Ufermann

















 
Fotos: Javier del Real