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Fakten zur Aufführung 

PARSIFAL
(Richard Wagner)
2. September 2012
(Premiere)

Theater Lübeck


Points of Honor                      

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Nahtoderfahrung als Erlösung

Es ist eine ungewöhnliche Stimmung im Lübecker Opernhaus. Ratlose Gesichter im Publikum, Diskussionen in den Pausen. Regisseur Anthony Pilavachi, der in Lübeck bereits den international viel beachteten Ring des Nibelungen inszeniert hat, verlangt einiges vom Lübecker Publikum. Wer sich auf Pilavachis Konzept einlässt, kann tatsächlich eine ganz neue Sichtweise auf Wagners Bühnenweihfestspiel bekommen. Für Wagner-Puristen und Erlösungssehnende gerät der Abend jedoch zur Qual.

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht die Nahtoderfahrung eines Sterbenden. Schon das Vorspiel lässt keine Sekunde Zweifel an der schonungslosen Entrümpelung überfrachteter Bühnenweihe. Parsifal liegt in einer Art Notaufnahme, angeschlossen an eine Beatmungsmaschine, und eine überdimensionierte EKG-Anzeige überträgt seine letzten Herzschläge. Scheinbar unbeteiligt stehen Kundry, Klingsor, Amfortas, der greise Titurel im Rollstuhl in Strassenkleidung daneben. Parsifal stirbt, das EKG zeigt Nullinie, und ein Blumenmädchen wirft sich weinend über den Verstorbenen. Der klinisch tote Parsifal bleibt alleine zurück und erhebt sich. Es ist der Moment, der in der Medizin als Nahtoderfahrung bezeichnet wird, der Übergang vom klinischen zum biologischen Tod. Und so ist das gesamte Werk an diesem Abend die retrospektive Erfahrung eines Sterbenden, der sein Leben noch einmal vorbei ziehen sieht.

Gralsritter und Knappen sind Ärzte und Pfleger, Gurnemanz und Amfortas erscheinen als Angehörige eines Ordens in weißgewandeten Kutten. Die Blumenmädchen im zweiten Aufzug sind Marionetten Klingsors, einer diabolischen Erscheinung. Parsifal, der reine Tor, erscheint zunächst mit einem abgeschnittenen Schwanenhals. Die Gralshüter haben ihre Gesichter verbunden, am Schluss erscheinen sie als geistig verwirrt und aussätzig. Die Atmosphäre auf der Bühne wirkt bedrohlich, der greise Titurel dominiert seinen Sohn Amfortas ohne Rücksicht auf seine Qualen. Die Verwandlung im ersten Aufzug und die Enthüllung des Grals sind brutal, Amfortas wird zur Ader gelassen, sein Blutverlust schwächt ihn und gibt den Rittern wiederum neue Kraft.

Dass Klingsor sich mit dem heiligen Speer am Schluss des zweiten Aufzuges selbst tötet, ist eine nicht neue Interpretation Pilavachis, trägt aber nicht wesentlich mehr zum Verständnis bei. Ganz anders die Rolleninterpretation Kundrys. Die Verführerin, die sich selbst nach Erlösung sehnt, mit lippenstiftverschmiertem Mund. Amfortas erscheint in der Verführungsszene und küsst Kundry mit gieriger Leidenschaft. Diese Szene wird für Parsifal zum Schlüsselerlebnis, er wendet sich von Kundry und Amfortas ab und geht seinen eigenen Weg. Im dritten Aufzug erscheint er als der wiedergeborene Erlöser, mit langen Haaren, Dornenkrone. Dass er zu Beginn ein Sturmgewehr trägt, das er dann wegwirft, um anschließend den verlorenen Speer aus der heiligen Quelle zu heben, ist eine von vielen Ungereimtheiten in der Inszenierung. Zum Schluss wird es fast kitschig, nachdem Parsifal das Amt des Gralshüters übernommen hat. Vor Titurels Sarg sitzen alle Protagonisten und trauern um den verstorbenen Parsifal, der sich seinerseits, das Paradies mit Engeln vor Augen, gemeinsam mit Gurnemanz von diesem Leben verabschiedet. Pilavachis inszenatorischer Ansatz ist interessant, aber in der Durchführung nicht konsequent genug mit zu vielen Ungereimtheiten, die das Werk zwar entfrachten, aber auch gleichzeitig verfremden. Tatjana Ivschina besorgt die Ausstattung für diesen Abend. Das Bühnenbild, ein angedeutetes weißes Gebirge namens Montsalvat, eine sterile Notaufnahme zu Beginn, alltägliche Straßenkleidung, auch unter den Ordenskutten. Es passt zu der kalten Atmosphäre der Inszenierung und lebt von plakativen Farbkontrasten.

Musikalisch ist die Aufführung sehr ordentlich mit einigen kleinen Wehrmutstropfen. GMD Roman Brogli-Sacher leitet das Philharmonische Orchester dynamisch, ohne lange Generalpausen. Das Vorspiel wird zügig gepielt, es fehlen die emotionalen und berührenden Momente, Melos und Pathos sind völlig ausgeklammert. Das Tempo ist schnell, aber nicht zu hastig. Mit einigen Intonationsschwächen fallen an diesem Abend die Bläser negativ auf. Insgesamt ist der Ton scharf, und die kühle Atmosphäre der Inszenierung überträgt sich auf die orchestrale Interpretation.

Großartig dagegen der von Joseph Feigl einstudierte Chor und Extrachor, der besonders die Liebesmahlszene im I. Aufzug und die Schlussszene im III. Aufzug mit großer Intensität gestaltet hat.

Sängerisch ist es ein großer Wagnerabend in der Oper Lübeck. Gerard Quinn als Amfortas überzeugt mit markantem Bariton und ausdrucksstarker Leidensfähigkeit, seine Schmerzen sind fast körperlich zu fühlen. Albert Pesendorfer gibt den Gurnemanz mit klarem Bass und beeindruckender Textverständlichkeit. Seine große Erzählung im I. Aufzug singt er mit balsamischem Bass, doch es fehlen die Phrasierungen, die Bögen, um eine größere Spannung aufzubauen. Das gelingt ihm aber umso eindrucksvoller im III. Aufzug, als er Parsifals Haupt salbt und ihn zum König krönt.

Der amerikanische Tenor Richard Decker singt die Partie des Parsifal mit kluger Krafteinteilung. Sein stahlkräftiger Tenor mit schönem baritonalem Timbre meistert die Höhen ohne Probleme, sein „Amfortas, die Wunde..“ geht durch Mark und Bein. Bei den lyrischen Stellen, die er sehr leicht ansetzt, klingt die Stimme manchmal etwas angestrengt. Die litauische Sopranistin Ausrine Stundyte gibt die Kundry mit einem warmen, verführerisch dunkel gefärbtem Timbre und strahlenden Höhen und meistert darstellerisch beeindruckend den szenischen Wechsel von der gejagten Furie zur Verführerin bis hin zur liebenden Dienerin. Antonio Yang als Klingsor legt mit großer Intensität und Leidenschaft die Rolle an, sein kraftvoller und ausdrucksstarker Bariton sowie seine physische Präsenz sind beeindruckend. Igor Levitan gibt den Titurel mit herrischem Bass, und das Altsolo von Wioletta Hebrowska ist einer der wenigen emotionalen Momente an diesem Abend. Gralsritter, Knappen und Blumenmädchen fügen sich stimmlich ohne Abstriche in das Gesamtensemble ein.

Am Schluss reagiert das Publikum, das die Protagonisten schon nach den ersten beiden Aufzügen gefeiert hat, mit großer Begeisterung für Sänger, Chor, Orchester und Dirigenten, während die Reaktionen für das Regieteam gemischt sind. Es ist ein Parsifal der anderen Art gewesen, der aufrührt, der provoziert, der aber auch nachdenklich macht. Insofern auch für alle Beteiligten eine Extremerfahrung.

Andreas H. Hölscher

Fotos: Oliver Fantitsch