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Fakten zur Aufführung 

ELEKTRA
(Richard Strauss)
21. Oktober 2012
(Premiere am 12. Oktober 2012)

Theater Lübeck


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Blutrünstiges Psychogramm zerstörter Seelen

Rache für den Mord an ihrem Vater ist alles, was Elektra im Sinn hat. Dass ihre Schwester Chrysothemis eher auf ihr eigenes Lebensglück aus ist, verurteilt sie scharf. Sie selbst gedenkt täglich des heimtückischen Mordes, den ihre Mutter Klytämnestra mit ihrem neuen Mann Ägisth an ihrem Vater Agamemnon vollbracht hat. Viele Jahre sind seitdem vergangen, doch Elektra kann das Blutbad nicht vergessen. Schmerzhaft vermisst Elektra ihren Bruder Orest, der das Verbrechen sühnen soll. Dabei ist sie hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem ermordeten Vater und ihrem Bruder sowie dem Hass gegen ihre Mutter und den Stiefvater. Elektra vegetiert als Ausgestoßene dahin, von Rache- und Mordphantasien geplagt. Als Orest endlich zurückkehrt, versäumt Elektra es, ihm das Rachebeil zu überreichen, doch führt sie ihm seine Opfer freudig zu. Orest vollzieht die Rache. Elektras Leben ist erfüllt. Soweit der Stoff aus der griechischen Mythologie – klassisch und grausam zugleich.

Regisseur Reto Nickler setzt in seiner Lübecker Neuinszenierung der Elektra ganz auf die expressionistische Ausdruckskraft des Bildes. Die drei Frauengestalten dieser Oper offenbaren ein blutrünstiges Psychogramm ihrer zerstörten Seelen. Allen voran Elektra, die in einem schäbigen, eingemauerten Zimmer als schizophrene Ausgestoßene vor sich hin vegetiert. Warum das Inventar wie Matratze, Badewanne und Spinde von einer erhöhten Zweitbühne - verantwortlich für die Ausstattung ist Hartmut Schörghöfer - in Elektras Zimmer heruntergeworfen werden muss, erschließt sich nicht. Ein junges, stummes Mädchen mit einem Geigenkasten spaziert ständig ein und aus. Doch schnell lernen wir, es ist ihr alter ego, das ihre Mordphantasien und Rachegelüste umsetzt. Im Geigenkoffer ist natürlich kein Instrument, sondern das Beil, mit dem Agamemnon einst erschlagen wurde und mit dem der zurückgekehrte Orest ihren Rachewunsch umsetzen soll. Mehr wie ein flippiger Punk erscheint ihre Schwester Chrysothemis, die mit ihrer Kamera beobachtet und alles dokumentiert und von dem schmierigen Ägisth zum Oralverkehr gezwungen wird. Und die Mutter Klytämnestra dominiert als bleiche Furie, die auf der Oberbühne, nur durch einen Deckenspiegel einsehbar, Farbeimer über Bedienstete kippt. Den Farben nach können es Urin und Blut sein, das bleibt der Phantasie des Zuschauers überlassen. Und Klytämnestra wechselt, genau wie Chrysothemis und das junge Elektra-Mädchen, zwischen diesen beiden Bühnenebenen hin und her. Dabei werden ständig Gegenstände verschoben, ohne darin einen tieferen Sinn erkennen zu lassen.

So zelebriert Nickler zwei Stunden lang eine schizoide Orgie an Blutphantasien und Gemetzel, die teilweise zwar zu Hugo von Hoffmansthals blutrünstigem Text passt, aber in vielen Bereichen überzogen wirkt und die Toleranz und Leidensbereitschaft des Publikums extrem strapaziert. Zu einem neuen Verständnis des Werkes trägt diese Inszenierung nicht bei.

Das braucht es auch nicht, denn dafür gibt es die großartige Musik von Richard Strauss: verstörend, beängstigend und erschütternd vom ersten bis zum letzten Ton. GMD Roman Brogli-Sacher hat sich mit seiner Interpretation dieses Werkes und seinem aufwühlenden und leidenschaftlichen Dirigat in seiner letzten Spielzeit in Lübeck selbst ein Denkmal gesetzt. Er wühlt sich nicht durch die Partitur, sondern brennt ein brillantes Klangfeuerwerk ab, dessen dynamischer Intensität man sich nicht entziehen kann. Und seine Musiker folgen ihm willig und mit großer Emphase, breiten keinen homogenen Klangteppich aus, sondern zaubern ein Mosaik differenzierter Straussscher Klangschönheit.

Die schwedische hochdramatische Sopranistin Ann-Marie Backlund singt die Elektra dynamisch und kraftvoll, ohne zu brüllen. Ihre kräftezehrende, psychotisch zerrissene Rolleninterpretation gelingt ihr beeindruckend mit strahlenden, dramatischen Ausbrüchen und einem warmen Timbre in den ruhigen Augenblicken. Ihre Agamemnon-Rufe sind ergreifend und erschütternd zugleich.

Ihr ebenbürtig in Kraft, Dynamik und leuchtenden Höhen, schlank und dynamisch variabel, sowie mit einem Stimmvolumen im klassischen Wagner-Stil ist die Sopranistin Manuela Uhl als Chrysothemis. Auch ihr kann der kräftefordernde Regieansatz nichts anhaben, sondern treibt sie eher noch zu gesanglichen Höchstleistungen an.

Das Frauentrio komplettiert die österreichische Mezzosopranistin Veronika Waldner, die mit wildem, herzlosen und blutrünstigem Fanatismus erfüllt die Rolle der Klytämnestra anlegt und mit ihren dramatischen Ausbrüchen und dem ängstlich resignierenden Mezzo-Wehklagen ihrer fieberhaften Alpträume einen grandiosen stimmlichen Kontrast zu den beiden Sopranistinnen bildet.

Der Südkoreaner Antonio Yang überzeugt in der Rolle des Orest einmal mehr mit kraftvollem und ausdrucksstarkem Bariton. Markus Ahme gibt den Ägisth mit kraftvollem Heldentenor, allerdings mit leichten Intonierungsschwächen in den Höhen.

Was bleibt nach zwei Stunden Aufführung ohne Pause? Ein musikalisches Klangerlebnis, wie man es selten erfährt, eine kleine musikalische Sternstunde am Lübecker Opernhimmel. Und eine Inszenierung, die mehr verstört und verwirrt. Dementsprechend reagiert das Publikum: Verhalten gegenüber der Inszenierung, großer Jubel vor allem für die drei Sängerinnen sowie GMD Brogli-Sacher und sein grandioses Philharmonisches Orchester.

Andreas H. Hölscher

Fotos: Thorsten Wulff