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Fakten zur Aufführung 

ANATEVKA
(Jerry Bock)
8. Februar 2012
(Premiere am 3. Oktober 2011)

Theater Lübeck


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Andererseits...

1965 wurde die Broadwayproduktion des Fiddler on the Roof, wie der englischsprachige Titel von Anatevka lautet, für bemerkenswerte zehn Tony Awards nominiert und gewann tatsächlich neun davon, unter anderem in der Kategorie „Bestes Musical“. Kein Wunder, dass es auch heute noch zu einem der oft gespielten Musicals gehört, ist seine Thematik doch stets aktuell.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Tevje, ein Milchmann aus dem kleinen jüdischen Schtetl Anatevka in Russland. Er muss nach und nach mit ansehen, wie seine Töchter sich gegen die jüdischen Traditionen wenden, indem sie eigenbestimmt und sogar über religiöse Grenzen hinweg heiraten. Tevjes „Einerseits-Andererseits“-Dialoge, in denen die Zeit für die anderen Darsteller stehen bleibt, sind dabei die verbindenden Bezugspunkte, auf die die Handlung immer wieder zurückkommt. Ob er dabei zu sich, Gott oder dem Publikum spricht, kann bewusst vieldeutig interpretiert werden. Wie weit darf ein Vater das Glück seiner Töchter zulassen, ohne dabei seine Religion und seine Traditionen zu verraten? Es geht um das Suchen von Alternativen, um Anpassung und auch um Weiterentwicklung, die aber für Tevje bei der Heirat mit einem Nicht-Juden zumindest vorerst zum Stoppen gelangt. Regisseur Jürgen Pöckel gelingt es, neben dieser ernsten Thematik um die Aufrechterhaltung von Traditionen und Glauben auch sehr viel Witz und Charme in die Dialoge und Szenen zu bringen. Behauptet sich in der einen Szene Tevje noch als Mann im Haus, gibt er in der anderen zu, dass er doch eigentlich eher nur das macht, was seine Frau von ihm verlangt. Der Zuschauer bekommt nicht den Eindruck einer schrecklichen Tragödie, die die immer wiederkehrende Zerstörung des Dorfes zweifellos ist, er nimmt viel mehr eine Menschenmenge wahr, die sich immer wieder mit einigermaßen viel Heiterkeit zum Weitermachen motiviert.

Das Bühnenbild von Thomas Gruber lenkt bewusst nicht vom eigentlichen Geschehen ab, es ist dezent und minimalistisch. Es herrscht ein stetes Wetterleuchten über Anatevka, und auf der Bühne deuten einfache Metallrahmen die Häuser an. Denn, so sagen es die Dorfbewohner in einer der letzten Szenen selbst, was ist schon groß in Anatevka, was hat das Dorf zu bieten? Nur ein Bett, einen Tisch, einen Stuhl, nicht so viel, als dass es einen großen Wiedererkennungswert für Fremde hätte. Trotzdem wäre die Möglichkeit einer etwas mehr ausgearbeiteten Kulisse und der Einsatz anderer Materialien denkbar und vielleicht auch wünschenswert gewesen. Mit seinen Kostümen. besonders die der Damen, trifft Klaus Hellenstein genau das Millieu: In solche altmodischen Schürzenkleider gehüllt stellt man sich die Frauen aus einem derartigen Dorf vor.

Rolf Wollrad bringt einen wunderbar lustigen, liebevollen, ab und an nachdenklichen oder auch einmal strengen Tevje auf die Bühne. Dieser toll getroffenen Besetzung ist der Erfolg des Musicals sicher zu großen Teilen zu verdanken. Seine Frau Golde wird von Beate-Maria Vorwerk verkörpert. Auch sie tritt stimmlich äußerst positiv in Erscheinung, kann sie doch die Rolle der Hausfrau mit dem eigentlichen Sagen im Haus, die ihren Ehemann immer wieder in bestimmte Richtungen lenkt, so schön ausspielen und -singen. Rebekka Reister als Zeitel und Hyo Jong Kim als Mottel geben ein herrlich liebenswürdiges Paar ab, ebenso wie Wioletta Hebrowska als Hodel und Steffen Kubach als Perchik. Diese beiden sehen ihre Zukunft allerdings nicht im heimischen Dorf und spielen und singen überzeugend rebellisch gegen Tevjes Sagen an. Die Besetzung der weiteren Rollen und der Chor unter der Leitung von Joseph Feigl können noch ein wenig an der schauspielerischen Synchronität arbeiten, haben im Großen und Ganzen aber eine ebenso gute Leistung erbracht. Leider lässt die Textverständlichkeit in den langen Passagen gesprochenen Textes oft zu wünschen übrig. So werden vor allem einige Dialoge in ihrer Wirkung beeinträchtigt. Hierauf also sollte bei künftigen Produktionen dieser Art mehr Wert gelegt werden.

Der eigentliche Star der Aufführung ist zweifelsohne Ludwig Pflanz, der sein Orchester den Musical-Sound wunderbar ausgestalten lässt und dem so die Balance zwischen typisch eingängigen Musical-Elementen und der folkloristischer Gestaltung mit wehklagenden jüdischen Geigen und Klarinetten gelingt.

Für einen fröhlichen Abend bedankt sich das Publikum mit herzlichem Lachen und noch mehr Applaus.

Agnes Beckmann

Fotos: Thorsten Wulff