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Fakten zur Aufführung 

CLEAR TEARS/TROUBLED WATERS
(Thierry Smits)
19. März 2013
(Gastspiel)

Forum Leverkusen


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Hyperventilation als Stilmittel

Choreograph Thierry Smits hat mit seiner erstmals in Deutschland gezeigten, am 8. Januar 2013 in Brüssel uraufgeführten Arbeit Clear Tears/Troubled Waters hohe Ansprüche. Mit sieben Tänzern und drei Musikern möchte er die Gefühle zeigen, die uns in Zeiten der so genannten Wirtschaftskrise umtreiben. Seiner Auffassung zufolge ist auf der Bühne des sehr gut besuchten Forums Leverkusen, das sich in den Händen der verantwortlichen Dramaturgin Claudia Scherb zu einem echten Schatzkästchen internationaler Tanzaufführungen entwickelt, „eine Dualität zwischen Trauer und Sanftheit, Verzweiflung und Klarheit“ zu erleben.

Erst einmal ist aber der Zuschauer auf sich selbst zurückgeworfen. Ein doppelseitig bedrucktes DIN-A4-Blatt dient als „Programmheft“, auch wenn es kein Programm enthält. Damit fällt die Orientierung schwer. Das Bühnenbild von Simon Siegmann ist leer. Ein paar Röhren hängen von der Decke. Am rechten Rand hat sich die Live-Band eingerichtet. Die Lichtregie Siegmanns gefällt von Anfang an nicht. Eine Reihe von Scheinwerfern beleuchtet von einer Traverse im Bühnenhintergrund die Bühne. So bleiben die Tänzerinnen und Tänzer androgyne Schemen. Dann wird es noch dunkler. Die Röhren entpuppen sich als verkleidete Neonröhren, die, allein zur Bühnenbeleuchtung eingesetzt, noch weniger vom Ensemble erkennen lassen. Erst in der Hälfte der Aufführung setzt Licht von oben die Akteure in Szene. Nach weiteren zehn Minuten – die Röhren sind nach oben gezogen – dürfen die Künstler ihre Fähigkeiten, dann aber quasi ungeschminkt, präsentieren. Ein Licht, das eher Putzlicht gleicht, führt den Zuschauer ins andere Extrem. Da ist eine Dramaturgie erkennbar; allein, warum die Akteure in der ersten Hälfte nicht erkannt werden dürfen, um in der zweiten Hälfte der Fantasielosigkeit ausgesetzt zu sein, erschließt sich nicht. Ebenso wenig begeistern die Kostüme, die zunächst im schlichten Schwarz eher an den casual wear einer Probe erinnern. Dass Luc Gering die schwarzen Bekleidungsstücke im Verlauf gegen dunkelblaue austauscht, mag einen tieferen Sinn haben. Adhoc ist der jedenfalls nicht erkennbar.

Eingängiger ist der Beginn der Aufführung. Da beschreibt ein Dauerlauf aller Tänzerinnen und Tänzer die Hektik der Krise und die anschließend von ihnen praktizierte Hyperventilation möglicherweise den Umstand, dass der Gesellschaft die Puste ausgeht. Es folgen Sequenzen der gegenseitigen Annäherung und des sich Abstoßens. Wenn die Röhren zur Hälfte hochgezogen sind, erfüllen die Akteure das Wort vom „in die Röhre gucken“, mit neuem Leben, indem sie am unteren Ende der Röhren erstarren. In den Hebefiguren wird eine bis dahin unbekannte Innigkeit sichtbar, in den Corps-Stücken so etwas wie hilflose Solidarität, wobei hier oft eine präzise Synchronizität erlebt werden darf. Irritierend bleibt die Aufhebung aller Geschlechterrollen. Verwirrend auch die fehlende Abrundung der Figuren. Wo Sanftheit spürbar wird, vollenden nicht runde Abschlüsse, sondern abrupte Wechsel die Bewegungen. Ist das die Analyse unserer Gesellschaft von Smits? Dass alles noch so gut Gemeinte nur noch im Kantigen und Eckigen endet? Vermutlich hat er Recht.

Aus dem Ensemble ragt Nicola Leahey heraus. Ohne als Solistin zu fungieren, gefällt die Kleinste der Gruppe mit ihrer Intensität und Ernsthaftigkeit. Es wird bis zum Ende des Beifalls dauern, bis ihr hübsches Gesicht ein Lächeln zeigt. Die Compagnie Thor – an diesem Abend außerdem bestehend aus Benjamin Bac, Emilie Assayag, Juliette Buffard, Rafal Popiela, Victor Pérez Armero und Ruochen Wang – begeistert mit ansatzlosen Figurwechseln, ungewöhnlichen Hebefiguren und extremer Kondition, wenn zwischenzeitlich immer wieder Dauerläufe stattfinden.

Die Musik steuern Steven Brown, Blaine L. Reininger und Maxime Bodson live bei. Brown und Reininger sind Gründungsmitglieder der mythischen Band Tuxedomoon und prägen den Sound des Abends. Wenn Dissonanzen über weite Strecken zwischenzeitlich zu Melodien werden, entspannen Ensemble und Publikum, ohne deshalb von der Faszination des Abends zu verlieren.

Das Publikum bedankt sich für diese Leistung mit anhaltendem Beifall und zum Schluss auch stehenden Ovationen. Und es nimmt eine Botschaft mit nach Hause, die diskussionswürdig ist: Am Ende stehen sieben Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne, die ihre Arme nach oben recken. Das mag nun ein jeder für sich selbst interpretieren.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Fabienne Louis