Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

NABUCCO
(Giuseppe Verdi)
6. Januar 2013
(Premiere)

Oper Leipzig


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort



 

zurück       Leserbrief

Gefangenenchor im Todestrakt

Das Jubiläumsjahr 2013 beginnt in Leipzig nicht mit Wagner. Stattdessen wird mit einer Neuinszenierung von Giuseppe Verdis Frühwerk Nabucco an den 200. Geburtstag des Komponisten erinnert. Jerusalem und Babylon zur Zeit Nebukadnezars 578 v. Chr. sind Schauplatz dieser Oper. Doch das Bibel-Epos um Macht, Liebe und Religion ist sicher mehr als ein bloßes Historiendrama, das Sänger, Chöre und Bühnentechnik auf das Äußerste fordert. Menschliche Konflikte werden hier in hochemotionaler Musik ausgedrückt und prägen bis heute diesen ersten, wirklich großen Opernerfolg des Komponisten. Die Geschichte ist nicht einfach zu durchschauen, stehen doch drei Handlungsstränge nebeneinander. Es ist der brutale Krieg zwischen Hebräern und Babyloniern einerseits, die Rivalität der babylonischen Halbgeschwister Fenena und Abigaile sowie deren Liebe zum hebräischen Königsneffen Ismaele andererseits, und dazwischen steht Nabucco, König von Babylon, dem Wahnsinn verfallen und am Schluss vermeintlich geheilt und geläutert.

Seit dem Erscheinen der ersten Verdi-Biographien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird immer wieder die These aufgestellt, das unter Fremdherrschaft leidende italienische Volk habe sich mit dem in dieser Oper zum Ausdruck kommenden Freiheitsstreben der in babylonischer Gefangenschaft gehaltenen Juden identifiziert. So sei der Gefangenenchor Va pensiero, sull'ali dorate eine Art italienische Nationalhymne, ein Protest gegen Tyrannei und politische Willkür, gewesen. Dafür gibt es jedoch nach neueren Forschungen zur politischen Verdi-Rezeption im Risorgimento keine Belege.

Regisseur Dietrich Hilsdorf, der in Leipzig zum vierten Mal inszeniert, verlegt die Handlung aber genau in diese Zeit der Entstehung des Werkes, die 1840-er Jahre. Hilsdorf und Bühnenbildner Dieter Richter benutzen raffiniert das Bühnenbild ihrer letzten Leipziger Arbeit, Paul Dessaus Deutsches Miserere. Es ist ein Theater im Theater, ein großes, bewegliches Bühnenportal auf der Bühne, mit geschlossenem Vorhang noch im ersten Aufzug, mit Projektionen im zweiten Aufzug, wenn die Selbst-Inszenierung Nabuccos beginnt. Und somit ist diese Inszenierung durchaus politisch zu verstehen, mit vielen Andeutungen und Assoziationen, die typisch für den Freigeist Hilsdorf sind. Er verzichtet auf spektakuläre Regieeinfälle, sondern wird vieldeutig und überlässt dem Publikum den Interpretationsspielraum. Hybris, Machthunger und Machtmissbrauch, Korrumpierung religiöser Überzeugungen, Unterdrückung und Unterwürfigkeit, Opportunismus und Aufbegehren sind Elemente, die Hilsdorf durchaus nachvollziehbar anspricht. Sein Gefangenenchor ist Ausdruck letzter Hoffnung im Todestrakt vor der kollektiven Hinrichtung und frei von jedem Nationalpathos. Zum Ende weicht er von dem bekannten Schluss ab. Fenena wird hingerichtet, Nabucco hält den abgeschlagenen Kopf in der Hand, und doch steht Fenena wieder auf. Ist es Nabuccos Wahnsinn oder ein göttliches Wunder? Diese Frage bleibt letztlich offen. Dass der babylonische Oberpriester Nabonid am Schluss die Rolle des nächsten Despoten und Diktators übernimmt, kann man auch als Synthese der aktuellen politischen Lage weltweit verstehen. Nabucco im Outfit eines Operettenfürsten in Phantasieuniform lässt durchaus Assoziationen zu früheren Machthabern in Europa oder im Nahen Osten zu. Renate Schmitzer hat für diese Inszenierung die Kostüme entworfen. Während die unterdrückten Hebräer schwarz gewandet sind, dominieren bei den Babyloniern bunte, opulente Kostüme, und die Soldaten erscheinen in Uniformen dieser Zeit.

Musikalisch gelingt diese Premiere zu einem Abend der Extraklasse. Anthony Bramall führt das Gewandhausorchester Leipzig dynamisch und differenziert, nimmt sich und das Orchester in den großen dramatischen Duetten und Chorszenen zurück, lässt aber das typische Verdische Farbenspiel zum Ausdruck kommen. Der Star des Abends aber ist eindeutig der von Alessandro Zuppardo profund einstudierte Chor und Zusatzchor der Oper Leipzig. Er sprüht nur so vor Dramatik und Sangesfreude, und der Gefangenchor gelingt sängerisch und szenisch zu einem berührenden Hoffnungschoral eines zum Tode geweihten Volkes. Einen derartigen Jubel für den Chor am Schluss gibt es wohl sonst nur in Bayreuth.

Markus Marquardt gibt den wahnsinnigen Nabucco mit profundem und wuchtigem Bass-Bariton. Seine letzte große Arie im vierten Aufzug gelingt ihm mit besonderer Intensität. Die Sopranistin Amarilli Nizza, die schon in der letzten Spielzeit als Lady Macbeth in Leipzig einen großen Erfolg gefeiert hat, überzeugt auch mit der mörderischen Partie der Abigaile. Besonders beeindruckt ihre bruchlose Tessitura, mit sicheren und dramatischen Ausbrüchen, aber auch zarten Pianotönen. Ihre Duette mit Markus Marquardt im dritten Aufzug sind der sängerische Höhepunkt des Abends. Der Tenor Gaston Rivera gibt den Ismaele mit strahlkräftigem Belcanto. Die Mezzosopranistin Jean Broekhuizen gewinnt in der Rolle der Fenena mit warmem Timbre zum Schluss der Aufführung an klarem Profil.

Arutjun Kotchinian als Hohepriester Zaccaria fällt durch sein übersteigertes Tremolo vor allem im ersten Aufzug etwas ab, fängt sich dann aber im Laufe der Vorstellung. Die junge Sopranistin Olena Tokar als Zaccarias Genossin Anna überzeugt durch ihre klaren Spitzentöne, die deutlich aus dem Ensemble herausragen. James Moellenhoff gibt den Oberpriester Nabonid mit solidem und durchschlagendem Bass und Keith Boldt den Abdallo mit unauffälligem Charaktertenor. 

Am Schluss der Vorstellung gibt es großen Jubel für Orchester, Chor und alle Beteiligten, insbesondere für Markus Marquard, Amarilli Nizza und Gaston Rivero. Das Regieteam muss nur vereinzelte Buh-Rufe aushalten, auch hier überwiegt die Begeisterung. Der Oper Leipzig ist mit dieser Produktion ein bemerkenswerter und sicher nachhaltiger Erfolg und Einstieg in das Verdi-Jahr 2013 gelungen.

Andreas H. Hölscher

 

Fotos: Kirsten Nijhof