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Fakten zur Aufführung 

ELEKTRA
(Richard Strauss)
12. Januar 2014
(Premiere am 16. April 2011)

Oper Leipzig


Points of Honor                      

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Das Trauma der kleinen Elektra

Nach einem erfolgreichem Jahr 2013, in dem vor allem die Aufführungen zum Wagner-Jubiläum zu einer deutlichen Steigerung der Auslastung der Oper Leipzig führten, steht im Jahre 2014 Richard Strauss im Fokus, wenn auch nicht in vergleichbarem Umfang wie Wagner 2013. Aber neben den Wiederaufnahmen von Elektra und Rosenkavalier dürfte die Neuinszenierung der Frau ohne Schatten, die am 14. Juni Premiere hat, von überregionalem Interesse sein.

Doch die Vorbereitungen der Wiederaufnahme von Elektra werden von großer Unruhe begleitet. „Die Oper Leipzig und die für die Titelpartie vorgesehene Irmgard Vilsmaier haben kurzfristig gemeinsam entschieden, ihr Rollendebüt der Elektra auf einen späteren Zeitraum zu verschieben“, verkündet das Haus offiziell zwei Tage vor der Aufführung. Auf Nachfrage von Opernnetz bestätigt Intendant und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer, dass das Rollendebüt der Elektra für Vilsmaier noch zu früh sei und man auch aus Fürsorgegründen kurzfristig entschieden habe, die Partie anderweitig zu besetzen. Man habe Leipzigs Brünnhilde, Eva Johansson, für die Besetzung der Partie gewinnen können. Allerdings hat Johansson noch am Vorabend der Elektra die Partie der Brünnhilde in der Leipziger Walküre zu singen. Auf die Frage, ob die Darbietung zweier großer Partien innerhalb von 24 Stunden zuzüglich Endproben und Generalprobe nicht zu viel des Guten sei, verweist Schirmer auf die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Eva Johansson seit dreißig Jahren. Außerdem würde sie das sehr sportlich nehmen, denn das hätte wohl noch kein Sopran vor ihr gemacht, Brünnhilde und Elektra an zwei Abenden hintereinander zu singen. Somit war die spannende Frage, wie Johansson diese große Herausforderung bewältigen würde.

Zunächst aber ist man beim Betreten des Zuschauerraumes etwas irritiert, denn lautes Kindergeschrei ist zu vernehmen. Elektra als Kindervorstellung? – Schwer vorstellbar. Ein kurzer Blick auf die Bühne löst das Rätsel auf, und man ist schnell in Peter Konwitschnys Regiekonzept eingetaucht, denn vor Vorstellungsbeginn wird die Vorgeschichte der Elektra erzählt, ganz modern. Statt eines Bühnenvorhangs empfängt eine Spiegelwand die Besucher, vor der eine Terrakotta-Badewanne steht. Ein junger Mann sitzt in der Wanne, und seine drei Kinder, in Badezeug gekleidet, spielen mit ihm. Schnell wird klar, es handelt sich bei dem fürsorglichen Familienvater um Agamemnon mit seinen beiden Töchtern Elektra und Chrysothemis sowie den Sohn Orest. Elektra und Orest spielen Krieg mit Wasserpistolen, Elektra „erschießt“ Orest, die kleine und etwas ängstliche Chrysothemis behält da lieber ihren Schwimmreifen um und heult in der Wanne. Eigentlich eine ganz banale, alltägliche Situation, die sich aber schnell in eine für die Kinder grausame Szenerie verwandelt.

Denn plötzlich erscheint Klytämnestra, Agamemnons Gattin, mit ihrem Geliebten Aegisth auf der Bühne, wirft ein Netz über den in der Wanne sitzenden Gatten, während dieser von hinten durch Aegisth mit einem Beil brutal erschlagen wird. Die Kinder müssen den Vatermord mit anschauen, und die kleine Elektra, die immer noch in der Wanne sitzt, bekommt hautnah mit, wie ihr Vater stirbt. In ihre angsterfüllten gellenden Schreie setzt der erste brutale Akkord von Richard Strauss‘ Elektra ein.

Jetzt öffnet sich die Spiegelwand, im Hintergrund ein großes offenes Fenster, der Himmel zeigt den letzten Sonnenuntergang in den Wolken, und eine überdimensionierte Digitaluhr-Anzeige ist auf diesem Naturbild eingeblendet. Im Vordergrund sieht man eine große weiße Ledercouch und einen Sessel. Die Terrakotta-Wanne mit dem toten Agamemnon bleibt omnipräsent auf der Bühne. Für Elektra, schwer gezeichnet von dem Kindheitstrauma, ist der erschlagene und blutüberströmte Vater in der Wanne allgegenwärtig. Ständig verschiebt sie die Wanne, es ist wie ein innerer Zwang. Und ihr ganzes elendes Dasein dient nur einem Zweck: Rache an ihrer Mutter und deren Liebhaber zu nehmen. Die Leuchtanzeige der Uhr setzt bei etwa 1:17 ein und läuft rückwärts. Ein unbarmherziger Countdown beginnt. Klytämnestras Lebensuhr läuft gnadenlos ab.

Peter Konwitschny stellt die Figur der Elektra in den Mittelpunkt, und er zeichnet ihren Charakter nicht, wie so häufig dargestellt, als schizophrene oder paranoide Hysterikerin, sondern diese Elektra ist gezeichnet durch ihre kindliche Traumatisierung, durch ihre Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen und durch den nagenden Hass auf ihre Mutter mit Vernichtungsphantasien. Auch zu ihrer kleinen Schwester Chrysothemis kann sie keine Beziehung aufbauen. Mutter Klytämnestra hat sich voll dem Alkohol ergeben. Als Orest, der vermeintlich tote Bruder, zurückkehrt, vollzieht dieser die Rache an Klytämnestra und Aegisth. Beide werden erschossen, und Elektra haut wie von Sinnen mit dem Beil auf die Sterbenden ein. Doch auch Orest verändert dieser Mord. Alle Anwesenden werden durch Maschinengewehrsalven niedergemetzelt, es ist wie ein sinnloser Amoklauf, während im Hintergrund ein Freudenfeuerwerk aufsteigt. Am Schluss sind alle tot, auch die Uhr läuft wieder, dieses Mal vorwärts und rasend schnell. Elektras letztliche Hingabe an den Zweck ihres Daseins war sinnlos, ein neuer Despot hat die Macht mit Schrecken und Terror übernommen.

Peter Konwitschny hat die Tragödie stringent, an der Musik entlang und auf ihr aufbauend inszeniert und die tiefenpsychologischen Beziehungen der Geschwister untereinander und zu ihrer Mutter auf eine berührende Art dargestellt. Lediglich beim Massenmord am Schluss hat Konwitschny es mal wieder übertrieben. Die Ausstattung von Hans-Joachim Schlieker ist für dieses Psychogramm gut adaptiert, die Lichtregie von Manfred Voss auf den Punkt genau.

Eva Johansson meistert die Herausforderung der Doppelbelastung Brünnhilde/Elektra auf einzigartige Weise. Sie singt die Partie dynamisch und kraftvoll, ohne zu brüllen, und zaubert sogar beeindruckende Piano-Töne hervor. Ihre kräftezehrende, zerrissene Rolleninterpretation gelingt ihr beeindruckend, mit strahlenden, dramatischen Ausbrüchen und einem warmen Timbre in den ruhigen Momenten. Ihre Agamemnon-Rufe sind ergreifend und erschütternd zugleich. Ihre physische Präsenz und die Ausdruckskraft ihres Spiels sind von höchster Intensität. Ihr nahezu ebenbürtig in Kraft, Dynamik und leuchtenden Höhen, schlank und dynamisch variabel, sowie mit einem großen Stimmvolumen ist die Sopranistin Gun-Brit Barkmin als Chrysothemis. Auch ihr kann der kräftefordernde Regieansatz nichts anhaben, sondern treibt sie eher noch zu gesanglichen Höchstleistungen an. Karin Lovelius in der Rolle der Klytämnestra beeindruckt mit ihren dramatischen Ausbrüchen und dem ängstlichen Wehklagen ihrer alkoholgeschwängerten Alpträume und bildet mit ihrem tiefen Mezzosopran einen grandiosen stimmlichen Kontrast zu den beiden Sopranistinnen. Mathias Hausmann überzeugt in der Rolle des Orest mit ausdrucksstarkem Bariton. Jürgen Müller gibt den Aegisth mit kraftvollem Heldentenor, und die vielen kleinen Nebenrollen bilden stimmlich und spielerisch ein beeindruckendes Gesamtensemble.

Ulf Schirmer hat am Abend zuvor die Walküre dirigiert und ein besonderes Jubiläum gefeiert, es war das 1000. Dirigat seiner künstlerischen Laufbahn seit 1982. Und sein 1001. Dirigat ist geprägt von einer großen musikalischen Leidenschaft. Schirmer wühlt sich nicht durch die Partitur, sondern brennt ein musikalisches Klangfeuerwerk ab, dessen dynamischer Intensität man sich nicht entziehen kann. Das Gewandhausorchester folgt ihm willig und mit großer Emphase. Da wird kein homogener Klangteppich ausgebreitet, sondern ein Mosaik differenzierter Klangschönheit mit wechselnden Tempi gezaubert, farbenreichen Phrasierungen, großen Bögen und durchaus bedrohlichen und fordernden Akzenten.

Das Publikum ist am Schluss fast geschockt, nur zögerlich setzt der Applaus nach einer längeren Stille ein, um dann doch zu einem großen und langanhaltenden Beifall anzuwachsen. Der Jubel für die Sängerinnen, insbesondere für Eva Johansson, hätte angesichts dieser großartigen Leistung etwas größer ausfallen dürfen, aber viele mussten anscheinend das Erlebte erst einmal verdauen. Ein grandioser Auftakt des kleinen Richard-Strauss-Jahrs in Leipzig, und diese musikalische und sängerische Darbietung hat die Messlatte ganz schön hoch gehängt. Und noch etwas sollte Schule machen. Die durchaus mutige Entscheidung eines Intendanten, einen Sänger oder eine Sängerin vor einem verfrühten Rollendebüt zu bewahren, um so zu verhindern, dass der Künstler, aber auch die Oper, Schaden nimmt.

Andreas H. Hölscher







Fotos: Tom Schulze