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Fakten zur Aufführung 

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)
16. November 2013
(Premiere am 15. Dezember 1991)

Oper Leipzig


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Die Poesie der Bilder

In einer Vorankündigung der Leipziger Volkszeitung zur Wiederaufnahme von Giacomo Puccinis Erfolgsoper La Bohème heißt es: „Die Inszenierung Peter Konwitschnys gehört zum Dichtesten, Wahrhaftigsten, Innigsten, Poetischsten, was der einstige Groß-Regisseur je schuf. Wen das im Verbund mit dieser Musik nicht zu Tränen rührt, der sollte über seinen Gefühlshaushalt nachdenken.“ Das sind große Worte, und entsprechend hoch ist die Erwartungshaltung an eine Inszenierung, die in Leipzig seit über zwanzig Jahren gespielt wird. Aber passen diese Attribute überhaupt zum Altmeister des provokativen Regietheaters? La Bohème als Rührstück in der Adventszeit für gestresste Weihnachtsgeschenke-Käufer? Wer in diesen Tagen die Leipziger Oper betritt, kommt fast gar nicht am weihnachtlich aufgebauten finnischen Dorf am Augustusplatz vorbei. Eben hat man noch den Duft von geflämmtem Lachs und Gögli-Wein in der Nase, da hebt sich der Vorhang zum ersten Bild und man erkennt die weihnachtlich illuminierte Silhouette von Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Dachkammer auf dem Montparnasse ist ein offener, karg eingerichteter Raum. Ein einzelnes Bett, ein Feuereimer, das ist alles. Hier leben vier Freunde mehr schlecht als recht von ihren Künsten. Man sieht die Staffelei von Marcello, der sein letztes Bild zerstört. Rodolfo, der Dichter, muss triviale Zeitungsartikel schreiben und verbrennt seine letzten Dichtungen, um etwas Wärme in die Kammer zu bringen. Colline, der Philosoph, kehrt erfolglos vom Leihhaus zurück, wo er seine Bücher verpfänden wollte. Nur der Musiker Schaunard kann etwas Geld auftreiben, um mit den Freunden Weihnachten zu feiern. Während die Freunde zum Café Momus abziehen, bittet die Blumenstickerin Mimi ihren Nachbarn Rodolfo um Feuer für ihre erloschene Kerze, und prompt verlieben die beiden sich. Es ist das erste große poetische Bild, das schon intime Wärme und Nähe in diesen großen kalten Raum bringt.

Im zweiten Bild wird das vorweihnachtliche Treiben vor dem Café Momus ganz klassisch und konventionell dargestellt. Da tritt die Musikkapelle in Weihnachtsmannkostümen auf, ein überdimensionierter XXL-Nussknacker marschiert zum großen Erstaunen des Kinderchors und des Publikums im dunstigen Nebel auf die Bühne. Doch die tragischen Beziehungsgeflechte zwischen Rodolfo und Mimi einerseits und Marcello und seiner flattrigen Freundin Musetta andererseits stehen im wahrsten Sinne des Wortes im Vordergrund. Als Musetta ihren großen Auftritt hat, wird das Geschehen fast in den Zuschauerraum verlagert. Zwischen Orchestergraben und Publikum befindet sich ein Laufsteg, auf dem sich Musetta provokant vor Marcello in Szene setzen kann. Die Beziehung zwischen Musetta und Marcello scheint zu eskalieren, während Mimi und Rodolfo vordergründig glücklich erscheinen. Rodolfo stellt sie den Freunden als seine neue Muse vor und beschert ihr mit dem Kauf eines Häubchens ein kurzes kleines Glück. Der Einsatz einer Drehbühne kontrastiert das stimmungsvolle große Treiben auf dem Platz zu den kleinen intimen Momenten der beiden Paare. Und immer dann, wenn die Beziehungsgeflechte der Paare im Vordergrund stehen, halten Chor und Statisten auf der Drehbühne inne, und Konwitschny erzeugt erneut ein großes poetisches Bild.

Es schneit leicht, als Mimi im dritten Bild in die triste Gegend bei der Zollschranke kommt, um Rodolfo zu suchen, der sie verlassen hat. Musetta erteilt angeblich Gesangsstunden in einem Wirtshaus, erzählt Marcello, und er selbst würde die Fassade des Hauses bemalen. Natürlich ist das Wirtshaus ein Bordell und Musetta verdient sich damit das Geld für ihre Eskapaden. Rodolfo hat Mimi verlassen, weil er ihr Sterben nicht ertragen kann oder nicht ertragen will. Dafür hat er allerhand Ausflüchte: Mimi würde andere Männer anmachen, oder er sei ihrer einfach überdrüssig. Als er Mimi vor dem Wirtshaus begegnet, die zufällig die beiden Männer belauscht und von ihrem drohenden Tod erfährt, wirkt noch einmal der alte Zauber. Sie versöhnen sich für den Moment und wollen wieder zusammen leben. Doch die Idylle trügt, und beide wissen es.

Im vierten und letzten Bild ist die Bühne leer, und es schneit immer noch. Die Szene spielt jetzt im Freien, und die Lage der vier Freunde, die keine Wohnung mehr haben, scheint ausweglos. Doch die Künstler nehmen es mit einer Art fatalistischem Galgenhumor und albern unbeschwert drauf los, bis die brutale Realität sie eiskalt einholt. Musetta erscheint mit der todkranken Mimi, die ihren Geliebten nach erneuter Trennung noch einmal sehen möchte. Musettas Pelzmantel dient als wärmende Unterlage für die sterbende Mimi. Der Verkauf der letzten Habseligkeiten der Freunde, um einen Arzt und Medikamente zu besorgen, kommt zu spät. Mimi stirbt auf der Straße, im Kreise der Freunde. Rodolfo erkennt zu spät seine Verantwortung und Mitschuld am Tode der Geliebten.

Peter Konwitschny und Johannes Leiacker, der die Bühne und die passenden Kostüme eingerichtet hat, ist mit dieser Inszenierung etwas ganz Nachhaltiges gelungen. Kein rührseliges Kitschstück, das ausschließlich von der Musik lebt, sondern die schonungslose Auseinandersetzung mit den Themen Liebe, Sterben und Tod. Und diese Thematik ist einfach zeitlos. Für Konwitschny ist es eine der Aufgaben des Theaters, den Menschen eine  bessere Welt vorzuspielen, die Utopie aufrecht zu erhalten. Liebe, Menschlichkeit und Rücksicht sind in unserer globalisierten Gesellschaft nicht gerade vordergründig, auch nicht in der vorweihnachtlichen Zeit. Hier legt Konwitschny seinen Finger in eine große Wunde. Auch so kann Regietheater sein, ohne Provokation und ganz auf die Musik abgestimmt, ohne Umdeutung. Konwitschny lenkt den Blick auf den Inhalt des Stückes und entlarvt die vermeintlich romantische Idylle. Als der letzte Ton verklingt, fällt kein Vorhang, das Licht bleibt an. Durch diesen Kunstgriff erzwingt Konwitschny eine gefühlte Ewigkeit der Stille und des Innehaltens, bis der erlösende Applaus endlich zaghaft einsetzt.

Zur Umsetzung dieses Regiekonzeptes braucht es exzellente Sängerdarsteller, die neben der gesanglichen Gestaltung auch die fein ausgeklügelte Personenregie umsetzen, um diese Nachhaltigkeit zu erzeugen. Und das gelingt an diesem Vorweihnachtsabend, zweiundzwanzig Jahre nach der Premiere, mit großer Intensität.

Gaston Rivero als Rodolfo hat in Leipzig schon durch seine Darstellung des Cavaradossi in Tosca für große Begeisterung gesorgt. Und auch in dieser Rolle besticht der Belcanto-Tenor erneut nicht nur durch sein warmes, baritonales Timbre und seine leuchtenden und durchdringenden Höhen, sondern er überzeugt durch seine intensive Bühnenpräsenz, und seine emotionalen Ausbrüche wirken so echt, dass sie fast körperlich zu spüren sind. Seine erste große Arie Che gelida manina singt er mit intensivem Pathos, um im ersten Duett mit Mimi, O soave fanciulla, alle stimmlichen Facetten zu zeigen.

Ein Comeback auf der Bühne nach Geburt und Mutterschutz feiert Marika Schönberg als Mimi. Ihre Stimme scheint tiefer und dramatischer geworden zu sein, und zunächst hat man den Eindruck, dass sie stimmlich längst über die Mimi hinaus ist. Besonders in den Höhen und den dramatischen Ausbrüchen fehlt das Strahlende, das Jungmädchenhafte. Doch ihre Mittellage ist warm, ihre Piano-Töne bezaubernd, und mit einer unglaublichen schauspielerischen Leistung verkörpert sie vor allem im dritten und vierten Bild das erschütternde Seelendrama einer todkranken jungen Frau. Ihr großes Duett im dritten Bild mit Gaston Rivero ist einer der Glanzpunkte des Abends.

Olena Tokar als Musetta begeistert mit überschäumendem Temperament einerseits, aber auch mit inniger Anteilnahme andererseits. Sie kokettiert, flirrt, tobt und betört mit geschmeidiger Stimmführung in ihrem Walzer im zweiten Bild. Am Schluss vereint sie alle noch einmal und bringt im Moment des Sterbens etwas Wärme in die kalte Szene. Der Bariton Marcin Bronikowski gibt den Maler Marcello mit viel Engagement und schöner, weicher Stimmführung, Milcho Borovinov überzeugt als Philosoph Colline mit markantem Bass-Bariton, und Jonathan Mitchie ergänzt als Musiker Schaunard das Quartett mit komödiantischem Spiel und ausdrucksstarkem Bariton.

Der von Alessandro Zuppardo vorzüglich eingestimmte Chor der Oper Leipzig, ergänzt vom fantastischen Kinderchor unter Sophie Bauer, machen das zweite Bild musikalisch und optisch zu einem vorweihnachtlichen Leckerbissen. Großartig auch das Gewandhausorchester unter der musikalischen Leitung von Matthias Foremny. Er musiziert mit intensiver Leidenschaft, trägt die Sänger in dienlicher Begleitung und formt den Klangköper aus Orchester, Chor und Sängerensemble zu einer musikalischen Einheit. Mit großen Bögen und variierendem Rubato-Tempo erklingt der so typisch heiter-melodische und gleichzeitig verstörend-gewaltige Puccini aus dem Orchestergraben.

Das Publikum braucht am Schluss einen langen Moment der Stille, um vielleicht zu begreifen, was da gerade in den letzten 2 ¼ Stunden passiert ist. Dann gibt es großen und langanhaltenden Beifall für alle Protagonisten, und Jubel für Foremny, Rivero und Schönberg.

Und ein kurioser Moment ereignet sich beim Schlussapplaus. Ein Zuschauer wirft für Olga Tokar einen Blumenstrauß auf die Bühne, der landet zunächst im Orchestergraben, wird hochgereicht und an den Souffleusen-Kasten gelehnt. Von dort nimmt ihn dann Marcin Bronikowski an sich und erfreut sich an der Beute. Da hat er die Rechnung aber ohne den Tokar-Fan gemacht, der kurzerhand zum Schrecken aller die Bühne stürmt, Bronikowski den Blumenstrauß wieder abringt, um ihn galant Olga Tokar persönlich zu überreichen. Großer Szenenapplaus!

Ach ja, was hat die Leipziger Volkszeitung in ihrem Vorbericht noch geschrieben? Über ihren Gefühlshaushalt mussten an diesem Abend die wenigsten Zuschauer nachdenken. Frohe Weihnachten.

Andreas H. Hölscher







Fotos: Tom Schulze