Katastrophe und Hoffnung
Lorenzo Fioroni „zerlegt“ Wagners Lohengrin in drei historische Phasen – politisch, kommunikativ, sozial, menschlich.
Akt 1: Der barocke König inszeniert ein „Wunder“, düpiert damit die aufmüpfige Opposition.
Akt 2: Im Kolonialregime werden die dienenden Eingeborenen verhöhnt – Aufstände werden brutal unterdrückt.
Akt 3: In einer aggressiven bürgerlich-kriegerischen Welt können Lohengrin und Elsa ihre Liebe nicht leben – es bleibt die Hoffnung auf die „Deklaration der Menschenrechte“.
Der Abend wird zu einem ästhimierenden Dokument der „Aufklärung durch Unterhaltung“: Es stimmen Handlung und Text, es korrespondieren Musik und Bühnen-Aktion – und vor allem: „Theorie“ wird zu emotionaler Betroffenheit, provoziert persönliche Assoziationen, fördert permanentes „lustvolles“ Reflektieren!
Paul Zollers klare Bühnen-Architektur charakterisiert historische Situationen mit signifikanten Groß-Details unter einem überwölbenden Wolken-Plafond mit Sternzeichen, der sich im Finale teilt und unsere zerbrochene Welt beschreibt. Sabine Blickenstorfer entwickelt staunenswert-zeittypische Kostüme in der Spannweite von opulent bis leisure-like.
Patrik Ringborg leitet das perfekt zusammenspielende Staatsorchester Kassel zu großartig interpretativer Performanz: beeindruckende magisch ansteigende Crescendi, sensibles Zusammenspiel der Instrumentengruppen, klangschöne Soli der Holzbläser, geradezu triumphale Präsentationen der Trompeten!
Das Kasseler Sänger-Darsteller-Ensemble überzeugt durch intensives Spiel, kommuniziert sehr konzentriert: Edith Haller gibt der Elsa in ihren drei so verschiedenen Erscheinungen emotionalisierenden Charakter, vermag mit schlank-variablem Sopran die geforderten Herausforderungen stimmlich mit souveränen Höhen auf einer sicheren Mittellage differenziert zu gestalten. Martin Homrich benötigt einige Zeit, um sein Stimm-Potential zu entwickeln, überzeugt im Finale mit feiner Distinktion im großen Grals-Gesang. Zuverlässig-klangvoll Mario Klein als differenzierender König Heinrich; Espen Fegrans Telramund beeindruckt mit makellosem Bariton; Mark Morouse gibt dem Heerrufer stimmliche Präsenz; und Lona Culmer-Schellbach verleiht der revolutionären Ortrud dramatische Artikulation. Das Kasseler Ensemble überzeugt durch vokale Präsenz in allen Rollen – und absolut großartig die Chöre (Opernchor, Extrachor, Kinderchor CANTAMUS) in ihren geradezu überwältigenden Klang-Wellen im geheimnisvollen Off und im darstellerisch und sängerisch hinreißenden Bühnen-Auftritt (Leitung Marco Zeiser Celesti).
Das Publikum in Kassel braucht einige Zeit, um sich im reflektierenden Bühnengeschehen zurechtzufinden, folgt gespannt, muss sich dann aber doch bei „komplizierten“ Passagen – wie z. B. den fluxus-Videos der ausgebeuteten Plantagen – nachbarschaftlich austauschen: Ein paar Traditionalisten grölen ihr „Buh“ – doch die Mehrheit ist „überzeugt“ von dem Gesehenen und Gehörten. Die Oper Kassel als Avantgarde der Wagner-Rezeption: Das gab’s in den 80er Jahren – vielleicht ist Fioronis Lohengrin der Beginn einer neuen Welle!
Franz R. Stuke
|