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Die Stellvertreterin
Sie ist eine Berliner Pflanze, noch nicht lange in Krefeld und ist schon mehrfach positiv aufgefallen. Jetzt feiert sie ihr Debüt als Manon. Und was das für eine Feier wird! In Unkenntnis all derer, die schon eine Manon gesungen haben, ist man versucht zu behaupten: So eine Manon hat es noch nicht gegeben. Sophie Witte verkörpert in ihrer jugendlichen Erscheinung das 16-jährige Mädchen ebenso wie die 20-jährige Frau mit solcher Authentizität, Hingabe und Überzeugungskraft, dass man ihr die Bewegungsarmut und übertrieben häufige Hinwendung zum Publikum nicht eine Sekunde übelnimmt. Ihr jugendlich-frischer Sopran ist poetische Lautmalerei, zart in jedem Register ausgesungen und dennoch von einem Volumen und einer Verständlichkeit, die selbst den ungestümen Fortissimi des Orchesters standhalten. Ja, wer wissen will, wie Massenet sich die 16-jährige Manon vorgestellt hat, sollte versuchen, eine Karte für diese Aufführung zu bekommen und ganz schnell nach Krefeld reisen.
Dabei hängt Regisseur François de Carpentries die Anforderungen an die Rolle hoch. Nichts weiter als die Stellvertreterin der heutigen Generation der 16- bis 20-Jährigen soll Witte darstellen. Die Naivität des Kindlichen, die sich in der Pubertät noch nicht verloren hat, gepaart mit unbändiger Spiel- und Lebenslust – die Kerze, die an beiden Enden brennt. Verbunden mit den Qualen des Erwachsenwerdens, erste große und leidenschaftliche Liebe inklusive. Den Tod der Manon mag man, oberflächlich betrachtet, als säuerliche Moral abtun. Im übertragenen Sinne ist es wohl eher der Abschied von einer intensiven, unwiederbringlichen Jugend, die dem Höheren weicht: Von der Flatterhaftigkeit und Sinnlosigkeit oberflächlicher Spielereien verabschiedet sich Manon in die Tiefen echter und dauerhafter Gefühle, die eine Ewigkeit überdauern können. Carpentries hat ein Meisterwerk geschaffen, auch wenn es sich vielleicht erst im zweiten Blick erschließt. Das mag daran liegen, dass er die historisierenden und prachtvoll anzuschauenden Kostüme von Karine van Hercke als Mittel der Verfremdung nutzt. Da, wo Erwartungshorizonte – in diesem Fall ein moderner Bezug – durchbrochen werden, kann der Fokus auf das Wahrhafte gelingen. Das unterstützt Siegfried E. Mayer mit seinem Bühnenbild. Die Bühne schließt mit dem Prospekt einer Landschaft im Mondlicht ab. Davor ein paar übermannsgroße Stellwände, die sich mit wenigen Handgriffen verschieben lassen, goldene Säulen, an die sich weiße Mauern mit goldfarbenen Ziselierungen anschließen, und wenige Requisiten wie ein rollendes Bett, ein Tisch, ein paar Stühle. Im fünften Akt traut Mayer sich gar, die Bühne gänzlich zu räumen und ganz auf das Licht von Holger Klede zu vertrauen, der die Bühne immer wieder und unmerklich in die passende Atmosphäre eintaucht. Auf solchem Tableau kann Carpentries zeigen, was Personenführung bedeutet. Die betreibt der Regisseur exzessiv und damit großartig. Inzwischen ein gängiger Trick unter Regisseuren, auf den auch Carpentries setzt: Lass Chor und Statisterie handeln, dann können die Solisten an der Rampe stehen bleiben. Das Problem: Hat der Zuschauer die Masche erkannt, ist die Illusion dahin. Wenn man es nicht kann. Carpentries kann. Auch wenn das Gewusel im Hintergrund manches Mal ein wenig überhandnimmt. Auf große Effekte verzichtet der Regisseur. Er setzt auf tausend kleine Einfälle, die wie Zahnräder ineinander greifen. Das ist zauberhaft, bezaubernd, verführerisch. Verblüffend auch. Wenn Carpentries den Abbé des Grieux in operesker Haltung verharren oder sich bewegen lässt, wundert der Betrachter sich, dass es funktioniert.
Natürlich funktioniert es insbesondere deshalb, weil der Meister auf fantastisches Personal zurückgreifen kann. Schön, wenn man das einmal sagen kann: Es gibt keine Ausfälle. Der wunderbare Walter Planté ist nicht zu größeren Bühnen enteilt, sondern hat Krefeld und Mönchengladbach die Treue gehalten. Jetzt bereitet er sich auf den verdienten Ruhestand vor, indem er noch einmal seine ganze Brillanz funkeln lässt. Als Guillot de Morfontaine beweist er auch im fortgeschrittenen Alter komödiantisches wie sängerisches Können. An dieser Stelle großen Respekt für einen Künstler, der erkennt, wann es an der Zeit ist zu gehen. Nämlich dann, wenn er noch so großartig spielt und singt, dass sich die Zuschauer bei der Premierenfeier vor ihm verbeugen. Wir sagen: Danke schön.
Der Witte ebenbürtig erweist sich Michael Siemon als Chevalier des Grieux. Ihm gelingt es sogar, die Nachbarinnen rechts und links verstummen zu lassen, die ansonsten während der gesamten Vorstellung wichtige Neuigkeiten auszutauschen haben. Ein größeres Kompliment kann es nicht geben. Er singt rein und klar, dramatisch überzeugend, fasst dich an und ist darstellerisch am überzeugendsten. Ob der Mann in Krefeld, Wien oder Mailand auftritt, wer will das unterscheiden? Großartig auch Matthias Wippich als Graf des Grieux, Vater des Chevaliers. Sein Bass ist balsamisch, würdevoll und überzeugend. Manons Cousin wird von Rafael Bruck wirkungsvoll interpretiert, auch wenn er zwischenzeitlich etwas belegt klingt. Das übrige Personal ergänzt begeisternd.
Maria Benyumova hat zu alter Form zurückgefunden und den Chor formidabel einstudiert. Ein weiterer funkelnder Edelstein in dieser Aufführung.
Generalmusikdirektor Mikhel Kütson hat mit Massenet am Premierenabend noch so seine Schwierigkeiten. Wenn das Publikum instrumentale Zwischenstücke gerne als Gelegenheit für eine Bronchialtoilette oder kurze Konversationen nutzt, spricht das eher dafür, dass es eben diesen noch an emotionaler Spannung fehlt. Auch die rechte Balance zwischen Sängern und Orchester will noch gefunden werden. Die forti werden zu fortissimi, egal, ob das im Einklang mit den Sängern funktioniert. So ergibt sich ein differenziertes Spiel, dem der letzte Schliff fehlt. Egal.
Die sängerischen Leistungen begeistern das Publikum ebenso wie das Regie-Team. Bravi und stehende Ovationen wollen kein Ende nehmen. Manch einer hat gestaunt, dass Manon am Karnevalssamstag zur Premiere kommt. Für das Rheinland durchaus ungewöhnlich. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist das Haus sehr gut besucht. Dass selbst die schwatzhaften Weiber an diesem Abend zufrieden nach Hause gehen, bedarf dann ja wohl keines Kommentars mehr.
Michael S. Zerban
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