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Fakten zur Aufführung 

WOZZECK
(Alban Berg)
20. Mai 2011 (Premiere)

Oper Köln


Points of Honor                      

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Gesang

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Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie den Audiobeitrag unseres Korrespondenten Michael S. Zerban mit dem Intendanten der Oper Köln, Uwe Eric Laufenberg.

 

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Wenn Sie auf die erste Taste von links klicken, hören Sie den Audiobeitrag unseres Korrespondenten Michael S. Zerban mit der Sopranistin Asmik Grigorian.

 

 

 

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Jenseits der Aktualität

Der Anti-Held, der trotz mehrerer Jobs nicht aus seinem armseligen sozialen Milieu herausfindet, von den besser Gestellten auch noch verlacht, sich aus der Wirklichkeit verliert und schließlich erst der Mutter seines Kindes und dann sich selbst das Leben nimmt. Das ist der Stoff, aus dem heute immer häufiger Zeitungsartikel geschrieben werden. Das ist die Handlung von Wozzeck. Ingo Kerkhof verzichtet in seiner Inszenierung auf solche aktuellen Bezüge. Er verzichtet überhaupt auf vieles. Mit Bühnenbildner Gisbert Jäkel vertraut er auf die industrieromantische Wirkung des Kölner Palladiums und begnügt sich mit wenigen Requisiten. Zwei Vorhänge, von denen einer an einen Duschvorhang erinnert, der andere eher an ein Bettlaken, eine Mülltonne am Bühnenrand, ein Klavier, ein zwischenzeitlich auftauchendes Partyzelt, Decken und ein paar Kleinteile, fertig. Gekonnter Minimalismus kann das Wesentliche einer Handlung unterstreichen; hier wird so weit reduziert, dass beim Publikum der Inhalt Wozzecks als bekannt vorausgesetzt werden muss, will es das Geschehen auf der Bühne verstehen. Selbst wer Alban Bergs Libretto kennt, muss sich konzentrieren, um der Handlung zu folgen. Damit ist der gegenteilige Effekt eingetreten: Der Purismus lenkt ab und erschwert. Bei den Kostümen hingegen darf es etwas mehr sein. Jessica Karge greift in ihrer ersten Kölner Arbeit auf den Kleidungsstil der Zeit zurück, in der Johann Christian Woyzeck gelebt hat.

Johann Christian Woyzeck – später wird dem Mörder unterstellt, er habe unter Depression, Schizophrenie, Verfolgungswahn und Depersonalisation gelitten – wird vom ärztlichen Gutachter für zurechnungsfähig erklärt und also zum Tode verurteilt. Wie spielt man einen solchen Menschen? Florian Boesch weiß es. Sein Wozzeck kommt ein wenig tapsig daher, dumpf, ohne wirklich irre zu sein, ehe ihn zuletzt die Verzweiflung übermannt. So genial wie sein Spiel ist sein Gesang. Berg verlangt dem Bariton einiges an stimmlichem Repertoire ab – Boesch leistet das in Vollendung. Keiner seiner Kollegen kann an diese Leistung anschließen. Alexander Fedin gibt den Hauptmann ohne Inspiration und Akzent. Den Doktor singt Bariton Dennis Wilgenhof wie in uralten Zeiten: so tief wie möglich, ohne auf das Verständnis des Textes zu achten. Das mag stimmlich eine Leistung sein, zeitgemäß ist es sicher nicht. Tambourmajor Gordon Gietz und Martin Koch als Andres bleiben gegen Wozzeck im Schatten, ihre Darstellung ist ordentlich. John Heuzenroeder darf seinen Tenor nur kurz präsentieren, begeistert aber von der ersten bis zur letzten Sekunde. Sein Narr ist von Leichtigkeit geprägt, man möchte meinen, der Schalk blitze in seinen Augen, ohne jemals lächerlich zu sein, in den richtigen Momenten kommt er gar ganz ernsthaft daher. Apropos Ernsthaftigkeit: Sebastian Kellner spielt Marias Sohn hochkonzentriert und auf den Punkt. In jeder Sekunde unterstreicht seine Bühnenpräsenz die Dramatik des Geschehens. Brillant. Als absolutes Juwel entpuppt sich die Maria. Die junge Sopranistin Asmik Grigorian begeistert mit stimmlichem Können und schauspielerischer Anmut. In den Höhen bewegt sie sich mit größter Natürlichkeit, ohne auch nur einen Moment Grenzen zu zeigen. In der Bruststimme gerät sie fast ins Sprechen – was der Rolle zusätzlichen Reiz verleiht. Wenn zwischen zweitem und drittem Akt die große Stille eintritt, mag sie noch so lang sein: Grigorian hält sie aus und nutzt sie mit selbstbewusstem Spiel. Gratulation der Intendanz zu dem Mut, der jungen Künstlerin eine solche Rolle zu geben.

Die Superlative sind damit noch nicht beendet. Andrew Ollivant treibt die Kinder des Kölner Domchores und den Chor der Kölner Oper zu Spitzenleistungen. Der Jäger aus Kurpfalz erschüttert. Für das Gürzenich-Orchester gibt es an diesem Abend ohnehin nur ein zutreffendes Attribut: fantastisch. Da wird den Sängern Raum gegeben, sich zu entfalten, während das klare Instrumentenspiel die Dramatik der Bergschen Oper seziert, mit den richtigen Nuancen und Akzenten versieht, um sie dem Publikum entgegenzuwerfen und ihm die wahre Größe dieses Werks zu offenbaren. Markus Stenz unterstützt hochkonzentriert und mit großer Geste.

Wenn es dunkel wird im Saal, bleibt es einen Moment still. Das Publikum braucht diesen Moment, um in die Wirklichkeit zurückzufinden. Dann aber werden Boesch und Grigorian mit Bravo-Rufen und Trampeln gefeiert, die übrigen Akteure mit anhaltendem Beifall bedacht.

Es muss nicht jede Oper aktualisiert, modernisiert oder gar in die Zukunft verlegt werden. Der Wozzeck zumindest hat die sozialkritische Brisanz, um die Fragen aufzuwerfen, die so nötig sind, um einer weiteren Entmenschlichung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Diese Chance hat Kerkhof vertan. Boesch und Grigorian – und genau in dieser Reihenfolge – aber haben neue Maßstäbe für künftige Interpretationen gesetzt.

Michael S. Zerban

 









Fotos: Bernd Uhlig