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Fakten zur Aufführung 

ÖDIPUS/BÊT NOIR
(Wim Vandekeybus/Ultima Vez)
10. Februar 2012
(Premiere, deutsche Erstaufführung)

Schauspielhaus Köln


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Orakel - das ist für Verrückte

Gewalttätig und unentrinnbar wüst geht es zu in der Ödipus-Tragödie des Sophokles. Das ist auch in der Neufassung von Jan Decorte nicht anders, die er für das deutschsprachige Publikum aus dem Flämischen ins Deutsche gebracht hat. Decorte reiht sich ein in einen über die Jahrtausende nicht abbrechenden Strom der Mythosbearbeitungen – Homer, Sophokles, Platon, Seneca, Corneille, Voltaire, Hölderlin, Freud, Gide, Cocteau oder Heiner Müller sind nur einige seiner Vorgänger. Decorte fasst sich kurz, es ist ein kompakter, komprimierter, direkter Theatertext, der ohne Umschweife auf die Handlungsessenz des Stoffes aus ist.

Wim Vandekeybus hat sich bereits in zwei Choreografien – 2006 mit Bêt Noir als Projekt mit Jugendlichen und 2009 mit Black Biist für das Göteborg Ballett – mit dem Stoff auseinandergesetzt, bevor er es jetzt mit seiner eigenen Kompagnie in Angriff nimmt. Man kann Ödipus/Bêt noir auch als direkte Fortführung der letzten Stücke von Vandekeybus und Ultima Vez – Menske (2007) und NieuwZwart (2009) – lesen. Menske, der kleine Mensch, zeigt den heutigen Menschen in seiner mentalen, psychischen und intellektuellen Unsicherheit und Ortlosigkeit, NieuwZwart, Neuschwarz, hingegen ist ein kaum entschüsselbares Ritual, ein abstrakter Zustand, eine dichte, untrennbare Fusion aus Tanz, Musik, Performance, Literatur und Licht, angetrieben und grundiert eben von etwas, das Vandekeybus NieuwZwart nennt. Ödipus, trotz Größe im Scheitern, ist auch dieser kleine Mensch, "ein dummer Bengel", wie ihn Vandekeybus auffasst, der dem großen schwarzen Biest des Orakels, der Bestimmung, des Fluches oder der Schuld – wie immer man das Verhängnis auffasst – nicht entrinnt und es erfüllt. 

Ödipus/Bêt noir ist nun als deutsche Erstaufführung am koproduzierenden Kölner Schauspiel zu sehen, sogar in längerer Sequenz mit Aufführungen von Februar bis April 2012. Regie, Choreographie und Bühne verantwortet Wim Vandekeybus. Ödipus/Bêt noir ist zuerst einmal ein lautes Unterfangen. Mit aller ohrenbetäubenden Macht der Musik, wenn auch mit einigen zarten Momenten, setzen auch die Bühnenmusiker die Geschichte des Ödipus laut und gewalttätig unter Spannung – und zwar deutlich über die Grenzen des Bekömmlichen hinaus, so dass das ganze Haus vibriert. Roland van Campenhout, Elko Blijweert und Jeroen Stevens ziehen alle Register und erzeugen eine derbe Klanglandschaft aus Blues, Hardrock, Jazz und experimentellen Sounds unter Hochdruck.

Das Stück mischt das Theatrale mit dem Tanz, auch von der Besetzung her. Vandekeybus erweitert seine Tanzkompagnie - Elena Fokina, Tanja Marín Friðjónsdóttir, Dawid Lorenc, Máté Mészáros, Bénédicte Mottart, Dymitry Szypura, Zebastián Méndez Marín und Aymara Parola – um vier Schauspieler des Kölner Ensembles: Birgit Walter, Ralf Harster, Torsten-Peter Schnick und Renato Schuch. Auch zwei der drei Bühnenmusiker, ohnehin immer im Bild, übernehmen tragende Rollen. Roland van Campenhout interpretiert Ödipus' Vater Laïos und Jeroen Stevens den Hirten. Vandekeybus reizt daran, dass aufgrund der unterschiedlichen körperlichen Verfassungen ein differentes Bewegungsrepertoire und so ein kontrastives Gestaltungselement in die Inszenierung kommt.

Die Ödipusgeschichte wird vom Ende her erzählt, doch zahllose flashbacks bringen auch die Vorgeschichte auf die Bühne, bis Ödipus am Ende als Baby vor uns liegt, unschuldig und in der großen Weite des Bühnenraums ausgesetzt, doch schon dem Scheitern anheim gegeben.

Vandekeybus, der den Ödipus selbst darstellt, tanzt und spricht, gibt ihn als den blöden Lümmel, mal rotzig, mal herrisch, mal naiv, stets ohne tragische Fallhöhe und mehr Antiheld als Heroe. Das archaische schwarze Biest des Orakels hat von ihm Besitz ergriffen, aber als ihn die (Selbst-)Erkenntnis wirklich trifft, ist es so überraschend dann doch nicht. Es kein Theater der Identifikation, sondern eines der Brechung und dezenten Ironisierung, das uns doch in der Interferenz von Schauspiel und Tanz die ganze Geschichte liefert.

Das eigentliche Ereignis des Abends ist die mit den Tänzern explodierende Kraft und Energie. Schier unglaublich sind sie im Bühnenbild unterwegs, rennend, kletternd, springend, fallend und das mit einer atemlosen, fast animalischen Gewalt. Das ist nicht von Anfang an so, zuerst ist es eher ein Suchen, sind es Etüden der Bewegung, kurz sequenziert. Bewegungen fangen an, erstarren und hören abrupt wieder auf, um wieder neu zu beginnen. Ein starkes, immer im Halbdunkel gehaltenes Bühnenbild mit nachhaltig einprägsamen Elementen wie einem veritablen Regen aus Schuhen, einer große Lampe, die wie ein mirakulöses Pendel über die Bühne schlägt oder einer großen runden Bühnenskulptur, die wie ein Mond aus Stofffetzen den Bühnenhintergrund bestimmt und sich multifunktional nutzen lässt. Auch glückliche Regieeinfälle, wie das Fotoritual, das die Herrscherfamilie in den verschiedenen Stadien ihrer Geschichte punktgenau festhält, werden nachhaltig in Erinnerung bleiben.

Ein starker Abend. Nach einigen Momenten der Besinnung großer Beifall für alle.

Dirk Ufermann

Fotos: Danny Willems