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Fakten zur Aufführung 

EUGEN ONEGIN
(Pjotr Iljitsch Tschaikowskij)
20. Oktober 2013
(Premiere)

Oper Köln, Oper am Dom


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Auf den Hund gekommen

Mitten in der Ballszene kommt eine Dame mit einer Hundeleine auf die Bühne und tatsächlich, da ist eine ganz kleine, hibbelige französische Bulldogge, die mit ihren Krallen laute Tippel-Geräusche auf dem Parkett verursacht. Leider freut sich der kleine Purzel so sehr darüber, auf der Bühne zu sein, dass er zunächst seine Nase in den Orchestergraben streckt, aufgeregt schnuppert und dann die am Boden kauernde und eigentlich verzweifelte Tatjana begeistert begrüßt und sich vor Freude und wackelndem Hinterteil fast überschlägt. Kein Wunder, dass die Augen des Publikums in diesem kurzen Moment nur noch am Hündchen hängen, alles andere ist vergessen. Ob das wohl so beabsichtigt war? Dass dieser Hund wohl ein Zitat aus Puschkins Werk sein soll, bleibt in diesem Moment unklar und geht interpretatorisch sehr weit, ist aber einer von vielen unerwarteten, kleinen Momenten in der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs, die der schweren, tragischen Story einerseits dramaturgische Tiefe geben, andererseits aber einen Realitätsbezug beanspruchen, der auch für diejenigen ersichtlich ist, die sich nicht unbedingt im Gesamtwerk Puschkins auskennen. Hilsdorf deutet die Oper nicht nur auf ihre emotional-tragischen Komponenten hin, immer wieder bricht er das emotional geladene Stück durch kleine Gags auf, die auch größtenteils funktionieren. Russische Klischees wie Wodka und Kasatschok werden glücklicherweise nur sparsam bedient. Der Regisseur spinnt die Geschichte weiter, als die Oper sie erzählt. Besonders nach der Pause wird das deutlich, wenn er die Kinderfrau nach dem Duell einen Herzinfarkt erleiden lässt, und gleichzeitig die Mutter, die bereits vor dem Duell einen Schlaganfall erlitt, im Rollstuhl vor sich hin vegetiert. Olga sieht man einen jungen Offizier umarmen, also hat sie doch noch ihr Glück gefunden, das sie mit Lenskij wohl nie erfahren hätte.

Die Erfahrungen Hilsdorfs als Regisseur werden vor allem im Detail sichtbar. Die exakte Personenführung lässt die zwischenmenschlichen Beziehungen der Protagonisten so deutlich werden, als wären sie von Puschkin und Tschaikowskij niemals anders intendiert gewesen. Larina, die vom Leben enttäuschte und verbitterte Mutter, gießt sich heimlich Wodka in den Tee und hängt ihre ganze Hoffnung an ihre Töchter, wobei sie ihre Zuneigung der lebenslustigen Olga und auch ihrem Schwiegersohn in spe, dem Dichter Lenskij, schenkt. Für die Träumereien und Absonderlichkeiten der Leseratte Tatjana hat sie kein Verständnis. Die bekommt dafür umso mehr Liebe von ihrer Kinderfrau Filipjewna, die sich rührend und mit großer Sorge um ihren Schützling kümmert. Lenskij ist für Olga leidenschaftlich entbrannt, was sie aber nicht erwidert. Bereits vor der Eifersuchtsszene kehrt sie ihm den Rücken zu, umso verständlicher wird so ihre Hinwendung zum smarten Onegin. Und besonders in Tatjana wird ein deutliches Rollenprofil gestaltet: Sie ist ein scheues, naives Ding mit Nachthemd und Hausschuhen, gelösten Haaren, blassem Gesicht und einem idealistischen Drang nach romantischer Liebe, die sie aus den Romanen beschwört, die sie verschlingt. Die roten Lack-Schuhe, die sie sich ungeschickt über ihre weißen Kniestrümpfe anzieht, sobald sie Onegin gewahr wird, sind unpassend fraulich und stehen in Diskrepanz zu ihrem tatsächlichen Auftreten als unreifes Mädchen. Allein die Handhabung des Chores stört das Gesamtbild. Während er im ersten Bild noch mit einer Idee auftritt, stehen sich die Mitglieder sonst hauptsächlich gegenseitig im Weg herum und laufen uninspiriert über die Bühne. Da wünscht man sich mehr Konsequenz in den Massenszenen. Nicht alle teils nur angerissenen Interpretationen werden in dieser Inszenierung deutlich, doch kann man im Hinblick auf das Gesamtbild und die feine psychologische Deutung über einige Unklarheiten hinwegsehen.

Die Bühne von Dieter Richter ist unaufgeregt, man kann fast sagen: Sie stört nicht. Man sieht rechts und links zwei architektonische Pfeiler mit Schmuckleisten und Tapete, auf der Flossen und florale Motive in hellem Blau gedruckt sind. Hierauf werden die Übertitel projiziert, was geschickt gelöst ist. Nachdem der Vorhang aufgegangen ist, sieht man einen die ganze Breite der Bühne einnehmenden Raum mit hohen Decken und Parkettboden. Die gemusterte Tapete füllt die Wände, darin befinden sich mehrere Türen und hohe Fenster, durch die das Tageslicht fällt. Hierbei leistet Andreas Grüter gute Arbeit am Licht. Wenige Möbelstücke lassen den Raum riesig erscheinen. Lediglich ein Tisch, an dem die Kinderfrau Silber poliert, zwei Töpfe mit Kräutern auf dem Fensterbrett und ein Sofa als Mittelpunkt der Handlungen stehen auf der Bühne. Zur Ballszene beginnt sich die Wand zu verschieben und gibt den gesamten Bühnenraum frei, ebenfalls zum Ende hin verschiebt sich wieder eine Wand. Sonst bleibt die Grund-Bühne durch alle Bilder bestehen, was ein Problem für die Übergänge bedeutet. Hilsdorf löst das, indem er die Szenen ineinander übergehen lässt. So zieht Tatjana beispielsweise ihr Ballkleid hinter dem Sofa hervor und streift es über, während sich die Wand öffnet und eine lange Balltafel freigibt und Statisten fleißig Kerzenständer herbeitragen und alle Requisiten weg räumen; der Trauerzug für Lenskij zieht über die Bühne, während Onegin noch in kalter Verzweiflung erstarrt und sich dann auf seine unstete Wanderschaft begibt. Das sieht gerade nach der Pause manchmal wie eine Verlegenheitslösung aus. Die Kostüme von Renate Schmitzer sind nicht eindeutig zeitlich zu verorten, größtenteils aber dem frühen 20. Jahrhundert entlehnt. Allerdings passen da die Ugg-Boots von Tatjana nicht ganz rein, ebenso wie der erste Aufzug Olgas, der mit weißer Bluse und buntem, engem Rock eher an die 1950-er Jahre erinnert. Lenskij tritt mit dandyhaftem, weißem Anzug und Hut auf und Onegin in kühlem schwarz. Die Ballkleider der Frauen sind dem Typ nach gewählt: Olga in einem hinreißenden, etwas über knielangen, sündig-knallroten Tüllrock mit Korsage, die Mutter in hoffnungsvoll glänzendem Grün und Tatjana in naivem, fast bräutlich berüschtem Weiß, das so gar nicht modisch, sondern altertümelnd daher kommt, passend zu ihrer romantischen Vorstellung von der Liebe und ihrem trampeligen Auftreten. Typisch russische Elemente sieht man bestenfalls vereinzelt im Chor und im Schlusskostüm der gereiften und starken Tatjana, die mit einem strahlend pinkfarbenen Barrett und strengem, schwarzem Kostüm auftritt.

Nur gute Worte kann man für die musikalische und besonders sängerische Leistung finden. Auf der einen Seite sind da die starken Frauen: Dalia Schächter nimmt die Rolle der Mutter Larina mit darstellerischer Natürlichkeit in Mimik und Gestik an und kostet die Konsonanten mit ihrem geschulten Organ geradezu genießerisch aus. So schön kann russisch klingen. Die Kinderfrau Filipjewna wird von Anna Maria Dur gesungen, die aufgrund der lebensechten Darstellung und ihres charaktervollen Mezzos in der Rolle überzeugt. Adriana Bastidas Gamboa als Olga gelingt eine vielschichtige Interpretation der Schwesternrolle. Sie trumpft mit in allen Lagen runder Stimme auf. Olesya Golovneva nimmt man die zerbrechliche, träumerisch-naive Tatjana sofort ab. Mit Intensität im Spiel und klangschönem wandelbaren Sopran gestaltet sie die Figur bis ins kleinste Detail aus und berührt damit das Publikum zutiefst. In der langen Briefszene beweist sie ihr ganzes Können, die Bühne gehört dabei ganz ihr. Aber auch die Männer stehen den Frauen in nichts nach. Mit sehr viel Sensibilität, meist durchgängigem Schmelz und fast zarten Piani singt Matthias Klink den Dichter Lesnkij; Andrei Bondarenko ist nicht nur der kalte, egoistische Onegin, was in seinem Spiel durchaus glaubhaft gelingt, doch seine Stimme zeigt auch andere Fassetten. Sein wohlklingender Bariton hat eine sehr weiche Seite, die er gekonnt einsetzt, um sich dem Rollenprofil des zerrissenen Onegin zu nähern. Robert Holl als Fürst Gremlin zeigt in seiner Arie durchaus die Liebe zu Tatjana, kommt aber etwas an seine stimmlichen Grenzen. Das Publikum zeigt sich dennoch sehr angetan. Die Nebenpartien sind mit Stefan Kohnke als Hauptmann und Luke Stroker als Sekundant passend besetzt. Eine besondere Rolle kommt der stummen Partie des Guillot zu, der den Quoten-Alkoholiker darstellt und vielfach in die Handlung mit einbezogen wird. Rolf Schorn beweist hier großen körperlichen und überzeugenden Einsatz.

Das Gürzenich-Orchester zeigt sich heute von bester Seite. Marc Piollet streichelt aus dem Klangkörper die sanftesten Töne, die der Musik Tschaikowskijs gerecht werden. Besonders positiv fallen die Bläser auf, die astrein gestimmt die Melodien in den Saal tragen. Piollet kostet jede Fermate aus, und erhöht damit die musikalische Spannung bis ins Unerträgliche. Andrew Ollivant hat den Chor wieder in Bestform einstudiert, obwohl die Mitglieder des Chores darstellerisch etwas allein gelassen erscheinen.

Die Spielstätte erweist sich für diese Oper mit vielen ruhigen Momenten als suboptimal. Zwar ist die Akustik an sich in Ordnung, allerdings gibt es Probleme, wenn es ruhig wird: Da hört man das ein oder andere Mal in einer Generalpause die Straßenbahn klingeln oder die Sirene eines Krankenwagen hereinschallen, und zum emotionalen Schluss beginnen die Scheinwerfer, ein hohes, gut hörbares irritierendes Sirren von sich zu geben. Das ist schade, denn die leisen Töne stehen auf der Bühne im Vordergrund, auf Ablenkung will man gerne verzichten.

Und, oh Wunder, die berührende Musik hat Spuren hinterlassen, heute benimmt sich das kölsche Publikum nahezu gesittet: Es ist hingerissen von der Leistung des Ensembles und feiert lautstark und lange Orchester und Sänger, die in einer etwas chaotischen Applausordnung den Applaus entgegennehmen. Lediglich das Regieteam darf einige obligatorische, allerdings sehr leise Buh-Rufe einstecken.

Miriam Rosenbohm

Fotos: Paul Leclaire