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Fakten zur Aufführung 

DAS ERDBEBEN IN CHILI
(Heinrich von Kleist)
28. Januar 2012
(Premiere)

Schauspiel Köln, Halle Kalk


Points of Honor                      

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Im Gehen

Die großen Erdbeben von Santiago de Chile 1647 und Lissabon 1755 bringen neben unzähligen menschlichen Opfern und materiellen Schäden auch ganze Weltbilder ins Wanken. Die Grundfeste der christlichen Religion, die Vorstellung eines gütigen oder gerechten Gottes werden genauso zweifelhaft wie der vernunftgetragene Optimismus der Aufklärung. "Alles was die Einbildungskraft sich Schreckliches vorstellen kann, muss man zusammen nehmen, um das Entsetzen einigermaßen vorzubilden, darin sich Menschen befinden müssen, wenn die Erde unter ihren Füßen bewegt wird, wenn alles um sie herum einstürzt, wenn ein in seinem Grunde bewegtes Wasser das Unglück durch Überströmungen vollkommen macht, wenn die Frucht des Todes, die Verzweiflung wegen des völligen Verlustes aller Güter, endlich der Anblick anderer Elenden den standhaftesten Mut niederschlagen. Eine solche Erzählung würde rührend sein, sie würde, weil sie Wirkung auf das Herz hat, vielleicht auch eine Besserung desselben haben können. Allein, ich überlasse diese Geschichte geschickteren Händen", sagt Immanuel Kant.

Ganz ohne Zweifel gehören Kleists Hände zu den solchermaßen geschickten Händen. Kleists zuerst 1807 publizierte, drei Jahre später revidierte Novelle erfüllt die Vorstellungen des Kantschen Textes, unmittelbar verfasst nach dem Lissabonner Vorfall. Kleist vermag das in einer klaren, adjektivgesättigten Sprache. Sorgfältig sind die Sätze geschachtelt, genau ist die Umgebung gezeichnet und sind die Empfindungen beschrieben. Die Protagonisten erleben den strukturellen Epochenbruch am eigenen Leibe, der ihnen den sicheren Boden eines geschlossenen Weltbildes entzieht: "Tiefe Schwermut erfüllte wieder seine Brust; sein Gebet fing ihn zu reuen an, und fürchterlich schien ihm das Wesen, das über den Wolken waltet." Der Plot ist ganz nach Kleists Vorliebe für alle Unwahrscheinlichkeiten gestaltet: Der Hauslehrer Jeronimo hat sich in seine Schülerin Josephe verliebt, welche die Liebe erwidert. Um die Beziehung zu unterbinden, wird sie in ein Kloster gesteckt, was beide aber nicht daran hindert, sich weiterhin zu treffen. Dabei wird Josephe schwanger und gebiert ein Kind, was als religiöser Skandal geahndet wird: Josephe wird zum Tode verurteilt und Jeronimo eingekerkert. In dem Moment, wo Josephe hingerichtet werden soll und Jeronimo sich aus Verzweiflung erhängen will, bricht das Erdbeben aus, beide können entkommen, treffen sich wieder vor den Toren der Stadt in der Menge der dem Unglück Entronnenen. Hier vor der Stadt im fast paradiesischen Raum der Natur situiert Kleist den Zustand der "Besserung", den Kant als Möglichkeit, als einzig möglichen "Sinn" der Naturkatastrophe, aufgefasst hat. Kleist entwirft eine Gesellschaft ohne Rangunterschiede, von gegenseitigem Mitleid und Hilfsbereitschaft getragen, in der auch die "verbotene" Liebe ihren Platz hat und nicht verhindert wird. Von dieser kurz aufscheinenden Utopie getäuscht, wagen es Jeronimo und Josephe, zu einem Dankgottesdienst für die Überlebenden in die einzig verbliebene Kirche Santiagos zurückzukehren. Dort werden sie erkannt und vom entfesselten Mob im religiösen Wahn ermordet.

Laurent Chétouane bringt diesen Stoff quasi in Reinform auf die Bühne. Der Text der Erzählung ist nicht auf Rollen verteilt, sondern er wird von Marie Rosa Tietjen, Jan-Peter Kampwirth vom Ensemble des Schauspiel Köln und dem Wiener Tänzer und Choreografen Philipp Gehmacher im steten Wechsel auf neutrale und emotionslose Art vorgetragen, und zwar auf ganz langsame, konzentrierte Weise. Der Text wandert so durch die Schauspieler, ungeachtet auch der gerade agierenden Geschlechter. Die Kostüme von Sanna Dembowski sind ebenfalls uniform, neutral weiss gehalten. Das hat die besondere Qualität, das die - wunderbare - Kleistsche Sprache ungetrübt von menschlicher Emotion, direkt vor dem Zuschauer ausgestellt erscheint. Die Darbietung des Textes entwickelt sich dabei im Gehen: unermüdlich bewegen sich die drei nach einem kaum zu entschlüsselnden choreografischen Muster durch den fast leeren Bühnenraum, gestaltet von Matthias Nebel. Ihre Gesten reißen Inhalte bloß an, kaum illustrieren oder doppeln sie die vorgetragene Handlung. Es ist schwer zu sagen, wem das Bewegungsrepertoire zuzuschreiben ist, das alle drei Protagonisten gleichermaßen gut ausführen, Chétouane oder Gehmacher. Es folgt jedenfalls in mehrfacher Hinsicht der Gehmacherschen Typik; es ist ein eher minimalistisches Repertoire, das aus vielen bloß angerissenen Bewegungen besteht, die kaum begonnen, schon wieder enden. Manchmal wirken sie etwas ratlos, entfremdet vom ausführenden Körper, als wäre es eine Repetition von etwas Früherem und keine gezielt aktive Handlung, was den Eindruck einer tiefen Verunsicherung hervorruft und gut zu Text und Vortrag passt. Oft wird dabei mit den Armen gestikuliert, sind es doch die Arme und Hände, mit denen man die Welt ergreift und begreift und nun, nach dem Einbruch des Fatums nicht mehr oder noch nicht weiß, was zu tun ist. Zu Philipp Gehmachers Fähigkeit gehört auch, dass er sich trotz der solistischen Qualitäten auf Kooperationen einlassen kann, man denke etwa an die schöne Zusammenarbeit mit Meg Stuart, und auch hier in Köln ist es wieder eine zutiefst gelungene Verbindung, bei der sich gar nicht die Frage stellt, wer sind hier die Schauspieler und wer ist der Tänzer.

Eine emotionale Grundierung erhält der Abend durch die Bühnenmusik von Leo Schmidthals. Anfangs evoziert er auf der E-Gitarre die heftigen Eruptionen des Erdbebens, später wechselt er für sensiblere und nachdenklichere Töne zur akustischen Gitarre. Videoprojektionen von Tomász Jeziorski kommentieren die Szene im Bühnenhintergrund: teils liefern sie Aufnahmen der Bühnenaufsicht, zeigen Bilder der Natur oder verlieren sich im bunten Farbtaumel eines Kirchenfensters.

Das alles ist von ungemeiner Faszinationskraft und verfehlt nicht seine Wirkung auf ein fast gebannt erscheinendes, konzentriertes Publikum. Großer Applaus.

Dirk Ufermann

 

Foto: Oliver Fantitsch