Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

AMERIKA
(Henrik Albrecht)
7. November 2013
(Uraufführung)

Literaturoper Köln, Belgisches Haus


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Nachwuchs in Absurdistan

Die Literaturoper Köln entwickelt nicht nur mehr und mehr Profil, sondern auch sich selbst zum festen Bestandteil im Pflichtenheft des aufgeschlossenen Musiktheater-Liebhabers. Aktuell steht die Uraufführung der Oper Amerika nach dem Buch Der Verschollene von Franz Kafka auf dem Programm. Von 1911 bis 1914 arbeitete Kafka an dem Fragment, 1927 veröffentlichte Max Brod die Geschichte unter dem Titel Amerika. Erst in späteren Ausgaben setzte sich der Titel Kafkas durch. Der Plot ist schnell erzählt. Karl Rossmann wird als 17-Jähriger von seinen Eltern nach Amerika verschifft, nachdem eine Dienstmagd ihn verführt hat und schwanger wurde. Aus der Obhut seines dort lebenden Onkels wegen allzu großer Selbstständigkeit verbannt, kümmern sich zwei Stadtstreicher um ihn. Nach Jobs als Liftboy und Diener macht sich Rossmann auf nach Oklahoma, um dort in einem Theater Arbeit zu finden. Im Grunde nichts weiter als das Roadmovie, das die Botschaft Go West verkündet. Was aus dem Romanfragment Weltliteratur macht, ist die Tiefe, ist die Vielschichtigkeit, die in der Handlung steckt. Die bigotte Moral deutschtümelnder, bürgerlicher Tradition wird angesichts des Aufbruchs in die neue Freiheit ad absurdum geführt. Freiheit kann zum einzigartigen Erfolg, aber auch zum Sturz in die Tiefe führen. Und: Wo passt da noch die Liebe oder weniger pathetisch: die emotionale Beziehung zwischen den Menschen hin? Bedenklich schließlich die Verheißung des Paradieses in Oklahoma, wo jeder unterkommt, solange er oder sie sich nur den Anordnungen der Administration fügt.

Eine Menge Stoff, an dem sich der Leiter der Literaturoper Köln und Regisseur Andreas Durban in bewährter Zusammenarbeit mit dem Komponisten Henrik Albrecht versucht hat. Der Konzertsaal im Belgischen Haus in Köln ist zwar für jede Inszenierung, die über ein Konzert für Flügel und drei Streicher hinausgeht, eine echte Herausforderung; für das Vorhaben Amerika aber der ideal-kreative Ort. Holzgetäfelt, mit Kerzenlampen an den Seitenrampen bietet der Saal die ausreichend traditionelle Grundlage für die Suche nach der Freiheit auf der vergleichsweise kleinen Bühne, davor, seitlich und dahinter. Birgit Pardun, verantwortlich für die Bühne, hat sich entschlossen, den gesamten Saal als Spielraum einzubeziehen. Währenddessen hat Durban sich um die Adaption des Romanfragments für die Bühne gekümmert. Mit bekannt leichtem Hang zum Surrealen und Absurden fügt er die Stationen der Kafka-Erzählung zu einem bis zur Groteske reichenden Ganzen zusammen, das innerhalb von zwei Stunden beim Publikum nicht nur für Unterhaltung und Spaß, sondern auch für viele Fragen sorgt, die über die Vorstellung hinausreichen. Auf der Bühne selbst sind die Seiteneingänge abgehängt, dazwischen findet eine Projektionsfläche Platz, auf der überwiegend assoziative Bilder ablaufen, die zu den jeweiligen Schauplätzen passen. Davor ein Flügel, an dem Georg Leisse sitzt und souverän die musikalische Leitung übernimmt. Auf dem übrigen Podest, vor der Bühne und in den Seitengängen entfalten sich die Jungdarsteller. Ihre Kostüme hat ebenfalls Pardun entwickelt. Die besondere Herausforderung ergibt sich dabei aus der Vielgestaltigkeit der Rollen. Es gehört zum Konzept der Literaturoper Köln, dass die Sängerdarsteller sich nicht auf eine Rolle konzentrieren, sondern gleich mal drei bis sieben verschiedene Charaktere präsentieren. Mit wechselnden Accessoires und eher zeitlosen Kostümversatzstücken gelingt es der Kostümbildnerin, die Rollen treffend darzustellen.

Die Schauspieler sind dann auch ausreichend damit beschäftigt, Kostüme und Requisiten zu wechseln. Ach ja, singen, schauspielern und Emotionen wecken gehört selbstverständlich auch noch zu ihren Aufgaben. Und die angehenden Sängerdarsteller meistern all das mit äußerster Souveränität. Dass es sich hier um eine studentische Aufführung handelt, ist spätestens nach dem ersten Lichtwechsel vergessen. Und der erfolgt wenige Sekunden nach Beginn der Aufführung. Daniel Jeremy Tilch gibt einen in Stimme und Darstellung ausgesprochen überzeugenden Karl Rossmann. Er beherrscht die einfachen tenoralen Anforderungen und kann sich ganz auf das Spiel des naiven 17-Jährigen konzentrieren. Nach der Aufführung nimmt die Oma ihn gerührt in den Arm, weil es ihr so gut gefallen hat. Und damit hat sie vollkommen recht. Merle Bader stemmt locker neun Rollen, überzeugt dabei „wie eine Alte“ – wenn die so was noch könnten – und gefällt mit einem lupenreinen Sopran. Vielleicht täuscht die so viel gepriesene Menschenkenntnis, aber wenn aus Bader keine Opernsängerin, sondern dereinst vielmehr eine Opernregisseurin à la Tatjana Gürbaca wird, wäre das nicht überraschend. Anders Katharina Borsch, die neben einem wunderbaren Sopran heute schon erkennen lässt, dass sie im richtigen Umfeld ein riesiges Potenzial hat. Manon Blanc-Desalle gefällt als angehende Mezzosopranistin nicht nur im Gesang, sondern auch im Ausdruck. Obwohl sie eigentlich eher vier unglückliche Rollen besetzt, zeigt sie schon jetzt, dass sie ihren Platz in der Opernlandschaft finden wird. Joel Urch zeigt in sieben Rollen, dass er das Zeug zum Bariton in der Opera buffa hat. Er kann auch einen Teufel spielen, der lustig ist, ohne albern zu werden. Das gelingt nicht vielen. Christine Léa Meier ist die einzige Absolventin und beweist das mit ausgefallener Spielkunst und Variabilität in fünf Rollen. Stimmlich deutlich unterfordert, lebt sie die Schauspielerin auf wunderbare Weise aus. Ihr Variantenreichtum vom überheblichen Onkel bis zur – heimlich – liebenden Therese ist unvergleichlich.

Komponist Henrik Albrecht hat den Studenten ein eher einfaches Niveau zur Verfügung gestellt, abgesehen von der Klara, die Borsch dennoch mit Leichtigkeit bewältigt. Die Stärke dieser Komposition liegt eindeutig in den Chorpassagen, die auch gleich an Gassenhauer Weillscher Tradition erinnern. Der Gast ist König oder Theater Oklahoma sind Lieder, die man mehr als einmal hören möchte. Georg Leisse unterstützt die Sängerdarsteller in idealer Weise. Zwar fehlt die dirigierende Hand, aber das Klavierspiel steuert die jungen Leute auf der Bühne sicher durch die Gefilde, die Andreas Durban unterhaltsam, skurril, absurd und manches Mal auch satirisch aufgebaut hat.

Das Publikum ist absolut begeistert. Abgesehen von einzelnen Fangruppen werden hier alle gleichermaßen mit Applaus und johlenden Zwischenrufen bedacht. Ein harmonischer, unterhaltsamer und kurzweiliger Abend, der viel für die Zukunft verspricht.

Michael S. Zerban

Fotos: Opernnetz