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Fakten zur Aufführung 

LA NAVARRAISE
(Jules Massenet)
LE BOULINGRINS
(Georges Aperghis)
29. Oktober 2011
(Premiere)

Theater Koblenz


Points of Honor                      

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Rätselhafte Triebe

Einakterabende gelten als schwierig. Das Publikum vermisst oft den musikalischen und epischen Bogen und fühlt sich dann überfordert mit der Aufgabe, zwischen den verschiedenen Stücken Zusammenhänge herstellen zu müssen. Das gilt selbst für Kombinationen, die historisch, thematisch und atmosphärisch so eng miteinander verzahnt sind wie die berühmten Zwillinge Pagliacci und Cavalleria Rusticana. Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Koblenzer Einakterabend – trotz nicht ganz ausverkaufter Premiere im intimen „großen“ Haus -  als Erfolg zu werten.

Die Dramaturgie hat nicht nur zwei Stücke ausgewählt, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten, sondern auch darauf verzichtet über das künstlerische Personal eine Verbindung herzustellen.

Matthias Schönfeldt hat sich Massenets 1894 uraufgeführte La Navarraise vorgenommen. In seiner Inszenierung, die von verbrauchten Regietheatermanierismen wie dem allgegenwärtigen Rollstuhl nicht frei ist, konzentriert er sich auf den Gegensatz zwischen Militärmilieu und der verzweifelt nach individuellem Glück strebenden Titelfigur. Die Geschichte spielt in den spanischen Karlistenkriegen. Die mittellose Anita, die Navarraise, liebt einen Soldaten aus reichem Hause. Dessen Vater verlangt eine hohe Mitgift von ihr. Durch die Ermordung des Generals der Gegenseite versucht sie verzweifelt, das Geld zu verdienen. Dafür wird sie von der militärischen Männergesellschaft und ihrem Bräutigam geächtet.

Der Regisseur ordnet Chor und Statisterie in blütenweißen Uniformen geschickt auf der oft bewegten Drehbühne an und schafft damit ein für die verzweifelte Anita undurchdringliches Labyrinth. Von diesen entindividualisierten Soldaten unterscheidet sich der General nur durch buntere Rangabzeichen – und eigenen Achselschweiß.

Die darstellerisch herausragende Aurea Marston als Anita singt mit individuellem Timbre und viel Stilgefühl. Michael Mrosek ist ein General mit attraktivem, in der Mittellage etwas dünnem Kavaliersbariton. Martin Shalita gibt den Bräutigam mit schmalem, hübschem Tenor, Jongmin Lim seinen Vater mit gewaltiger, verschwenderisch eingesetzter Stimmfülle. Danilo Tepsa und Marco Kilian sind solide Militärchargen. Der Chor agiert präzise und hätte sonorer klingen dürfen. Enrico Delamboye lässt das Orchester mehrfach martialisch aufrauschen und macht  die Nähe zum italienischen Verismo wie die Herkunft aus dem französischen dramme lyrique spannend hörbar.

Die Bühnenbildnerin Katrin Hieronimus und die Kostümbildnerin Gwendolyn Jenkins sind für beide Stücke verantwortlich. La Navarraise findet im leeren Raum statt, dem eine Art weißer Wartesaal vorgeschaltet ist, in dem die intimeren Szenen spielen. Wirkt die Ausstattung also im ersten Teil des Abends streng und asketisch, kommt sie im zweiten Teil mit ironischem Witz und viel Phantasie daher. Für Les Boulingrins hat Hieronimus ein kackbraunes Spießerwohnzimmer entworfen, das ein wenig wie ein Adventskalender wirkt: hinter jeder Schranktür lauert eine Überraschung.

Der lange Einakter von Georges Aperghis wurde im letzten Jahr in Paris uraufgeführt. Das Stück ist eine vor Witz sprühende Farce über den Nassauer Des Rillettes (Schweineschmalz!), der sich bei einem scheinbar soliden und langweiligen Paar Boulingrin einnisten will. Er gerät in einen, offenbar schon lange schwelenden, sehr drastisch ausgetragenen Ehekrieg, beobachtet und angeheizt vom durchgeknallten Zimmermädchen. Die Inszenierung von Beate Baron zeigt lustvoll die Dekonstruktion eines Menschen und lässt es dabei weder an Absurditäten noch an spritzigen Effekten und genau gesetzten Pointen fehlen. Sie hat dafür vier fabelhafte Sänger zur Verfügung, die sich auch an größeren Häusern durchsetzen könnten.

Christoph Plessers bringt als Kümmerling Des Rillettes einen saftigen lyrischen Bariton ein - und großes komisches Talent. Hierin wird er noch übertroffen von Monica Mascus als gnadenloses Ehetier  mit großer Wandlungsfähigkeit. Ihrem Mann gibt Mathieu Dubroca, der einzige Gast im Ensemble, einen verzweifelt komischen Kampf um einen Rest Würde als Gatte und Familienoberhaupt mit. Er singt den französischen Text so prägnant, dass es einer Übersetzung kaum bedarf. Den Vogel schießt aber Hana Lee als verrückte Hausangestellte ab. Sie exekutiert ihren schwachsinnigen Text mit Lust und Präzision in Stratosphärenhöhen und spielt geradezu ausgelassen mit Langhaarperücke und wattiertem Bauch. Höhepunkte des Abends sind ihre grotesken Duelle mit einem esswütigem Wandspiegel, die die anderen Figuren einfach ignorieren.

Georges Aperghis hat zu diesem merkwürdigen Opernstoff eine Art Maschinenmusik geschrieben. Es knarzt und gluckst, es klirrt, brummt und knistert ununterbrochen. Melodien gibt es höchstens taktweise, musikalisch Delikates aber des Öfteren, etwa in dem kurzen, poetischen Epilog für Soloklavier. Das zehnköpfige Orchester und sein sicherer, charmanter Leiter Karsten Huschke, tritt in an die Belle Epoque erinnernden, nostalgisch-eleganten Rüschenblusen an. Alle hohen Frequenzen und Klangfarben fehlen unentschuldigt, was für die Sänger naturgemäß sehr angenehm ist. Es gibt keine Violinen und Bratschen, keine Oboe, keine hohe Flöte. Celli, Saxophon, Akkordeon und Perkussion dominieren.  

Einige Zuschauer wollen sich diesem ungewohnten Klangerlebnis nicht stellen und verdrücken sich still und leise. Die Dagebliebenen feiern, nach freundlicher Aufnahme der Navarraise, den zweiten Teil ausgelassen.

Die Verbindung zwischen den beiden Teilen liegt am Ende des zweistündigen Abends auch offen zu Tage. Es ist der große, böse Wolf in uns allen, der rätselhafte Trieb des Menschen, seinen Nächsten, wenn nicht permanent, so doch immer wieder mal zu quälen, eine Thematik, die heute vielleicht so aktuell ist wie lange nicht.

Andreas Falentin






 
Fotos: Theater Koblenz