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Fakten zur Aufführung 

THE TURN OF THE SCREW
(Benjamin Britten)
28. Juni 2013
(Premiere am 15. Juni 2013)

Staatstheater Kassel


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Verloren im Labyrinth

Zum Schluss weiß eigentlich niemand mehr genau, wo er hingehört: Der strenge, aber sehr beschäftigte Vormund, seine beiden Mündel, der pubertierende Knabe Miles und die schon reifere Flora, deren Governess, die nicht mehr voll im Bilde ist, die liebe Haushälterin Grose, … und dann sind da noch die Schatten, Doppelgänger und geisterähnliche Nackte, die schweigend durch die Szene schreiten, rätselhaft und drohend zugleich.

Ein englischer Landsitz im viktorianischen England mit seinen strengen Formen, steifen Umgangsformen und kühl eingerichteten Räumen bildet den Hintergrund für dieses rätselhafte Gruselstück, das Myfanwy Piper nach einem Roman des Amerikaners Henry James von 1898 textlich für ein Libretto eingerichtet hat, zu dem Benjamin Britten eine eher selten gespielte Oper komponierte. Obwohl diese Musik nur hin und wieder in den Vordergrund tritt, bildet sie doch ein wesentliches Element dieses Werkes und hält letztlich musikalisch die visionären Einfälle des Skriptes wie die kreativen Interpretationen der Inszenierung beeindruckend zusammen.

Alexander Hannemann reicht ein kleines Orchester, um die weit spannenden Stimmungen dieses Singspiels zu unterstreichen. In zarten Flötenklängen, den voluminösen Klarinettenpassagen oder dem – seltenen – Donner der Pauken kommen die Frühlingsgefühle, die selbstbewussten Vorträge der Governess oder die sexuellen Bedrohungen wirkungsvoll auf die Bühne. Die Gesangspartien erreichen selten opernhafte Dramatik, bringen aber umso überzeugender die Stimmungen der Protagonisten zum Klingen.

Karolina Andersson zeigt mit klarem, gefühlvollen Sopran das zerrissene Innere der Governess. Ms Grose gibt der Haushälterin und Vertrauten der Kinder mit warmem Mezzosopran eine weiche Ausstrahlung. Gideon Poppe kleidet in der Doppelrolle des Psychiaters und des Mr Quint beide Rollen mit hellem, kühlen Tenor in eine leicht jenseitige Note. Einige kleinere Partien in durchweg hellen Stimmlagen ergänzen ein überzeugendes Klangbild, das insgesamt eher wirkt wie Oratorienstücke, in denen die Selbstreflexion der Figuren sich ausdrückt. Das gilt sogar für die beiden Kinderrollen, in denen Mira Meske als Flora und Matthias Gude als Miles brillieren. Die helle Knabenstimme zeigt eine Sicherheit und Ausdrucksstärke, die wirklich erstaunt. Mira Meske ist auch in der Darstellung des Mädchens Flora schon ein wenig reifer und zeigt ihre Zerrissenheit zwischen Vormund und Governess berührend intensiv.

Eine besondere Rolle spielen zwei schweigsame nackte Figuren in dem Stück: Erst ganz allmählich wird klar, dass sie, zwischen erotischer Anziehung, sexueller Begierde und Bedrohung changierend, ein Stück des Innenlebens dieser beider Kinder sein können, deren Zukunft sich, je nach der nächsten „Drehung der Schraube“ so oder so wenden kann. Beeindruckend, wie Gunnar Seidel seine Anziehung zu Miles verhalten und kontrolliert spielt, und Valeska Weber mal sexuell attraktiv, aber über weite Strecken auch äußerst unterkühlt sprachlos ihre Rollen bewältigen .

Durch den Regieeinfall, Doppelrollen als Doppelgänger einzuführen und Stimmen aus dem Off einzuspielen, erreicht Paul Esterhazy in dieser Inszenierung eine weitere Verwirrung, die zur Rätselhaftigkeit des Geschehens in dieser seltsamen Welt beiträgt. Die Inszenierung überlässt es dem Zuschauer zu entscheiden, was sich dort tatsächlich abspielt und was der Vorstellungswelt der Governess entspringt - eine geschickte Offenheit. Dem entsprechen Bühnendekoration und Kostüme, in denen Pia Jansen die zeitgemäß steif gekleideten Figuren sich bewegen lässt. Vor großwandigen Videoprojektionen reichen kleine Versatzstücke wie ein Ahnenportrait, ein Spiegel oder ein Fenster ins Dunkle, um die oft düsteren, rätselhaften Stimmungen zu unterstützen. Ein Spielzeugschwert, von Miles mitgebracht, wandert rätselhaft durch verschiedene Hände.

So bleibt ein unsicheres, ja verunsichertes Publikum zurück, das sich am Schluss auch ein wenig erlöst fühlt. Bei aller Sparsamkeit des Spiels, einer Verfremdung der Gesänge durch Einspielen aus dem Off, der kargen Bühnenausstattung erhält die Aufführung eine Intensität und emotionale Dichte, die überrascht und beeindruckt. Hieran hat Brittens Musik, die von Alexander Hannemann und seinem kleinen Orchester sehr differenziert und authentisch präsentiert wird, einen wesentlichen Anteil.

Das aufmerksame Publikum bedankt sich für einen spannenden, nachdenklich stimmenden Abend mit viel Beifall, über den sich besonders die beiden Kinderdarsteller freuen dürfen.

Horst Dichanz

Fotos: N. Klinger