Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)
31. Januar 2014
(Premiere am 10. September 2011)

Staatstheater Kassel


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Studentenfutter

Zu Beginn der Aufführung hebt sich der Vorhang nicht, um den Blick auf die Mansarde irgendwo in Paris freizugeben. Auch auf den dynamisch zupackenden Einsatz des Staatsorchesters muss das Publikum noch warten. Intendant Thomas Bockelmann und der Präsident der Universität Kassel, Rolf-Dieter Postlep, geben sich als charmante Gastgeber und Conférenciers die Ehre. Traditionell trifft zu Beginn eines Jahres die Hochschule die Oper, öffnet sich die Hochschule der Oper. Das Staatstheater ist voll besetzt. Viele, auffällig auch viele Jüngere, mutmaßlich zahlreiche Studierende, sind gekommen. Eine Chance für das Theater, etliche vielleicht dauerhaft für die Kunst der Oper zu gewinnen. Studentenfutter, einmal anders.

So weit, so nachvollziehbar die gute Marketingidee. Nur hat die ganze Sache an diesem Abend einen Haken. Bekanntlich ist Puccinis Geniestreich von 1896 geradezu der Musterfall der Oper, die man Akademikern in spe unter wachsendem Leistungsdruck nicht präsentieren sollte. Die Bohemiens Rodolfo und Marcello leben in den Bildern eins und zwei der Szenen nach Henri Murgers Erfolgsroman La vie de Bohème in den Tag hinein. Die beiden Tagträumer, allenfalls Lebenskünstler, sind samt ihren Freunden Schaunard und Colline junge hungrige Abenteurer. Sie leben in kargen Verhältnissen, jagen ungeachtet dessen allein hinter dem Vergnügen her, den Amouren und jeglicher Zerstreuung, die sich im nach- und wiederum vorrevolutionären Paris zur Mitte des 19. Jahrhunderts bietet. Gerade an diesem kalten Weihnachtsabend, an dem dummerweise auch das Leihhaus geschlossen ist. Solche Protagonisten des dolce far niente ausgerechnet an einem solchen Abend auf der Bühne?

Scherz beiseite, Puccinis Oper auf das Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica ist ja in Wahrheit – vergleichbar Wagners Parsifal – ein Entwicklungsroman, das Musikdrama der Transformation von Jugend in Reife, von Leichtsinn in Ernsthaftigkeit, von sanguinischer Unbekümmertheit in Empathie bei Erwerb der Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung. Ein Emanzipationsstück, das sich für das PR-Ziel der Intendanz dann wiederum trefflich eignet. Genauso hat nämlich Regisseur Philipp Kochheim seine Inszenierung angelegt. Wir Zuschauer verfolgen, wieder einmal gebannt und im Finale atemlos, den Wandel von Kommunarden zu Citoyens, wie man das Ganze auch zu Ende denken kann. „In gewissem Sinne“, hat Kochheim notiert, „ist die Oper nicht nur eine Liebesgeschichte im Künstlermilieu, sondern auch ein beschleunigtes Pubertätsdrama, ein Erwachsenwerden im Zeitraffer.“

Die psychologische Zäsur, in Puccinis Partitur manifestiert in einem jähen Umschwung der musikalischen Tonalität, ereignet sich im dritten Bild, wenn Rodolfo Marcello seine wahre Empfindung gegenüber der todkranken Mimi gesteht. Schauplatz dieses Dialoges ist im Original der kleine Platz vor der Zollbarriere, an den ein Wirtshaus grenzt. „Der Morgen graut; es ist Februar, und alles ist tief verschneit.“ Blickpunkt dieser winterlichen tieftraurigen Szenerie im Bühnenbild Thomas Grubers indes ist ein seitlich geparkter Citroën 2CV, der diverse Wanderungen der Protagonisten zwischen Platz und Auto ermöglicht und im eigentlich todtraurigen Schluss des Bildes Marcello und Musette als Ort eines Quickies dient.

Spätestens an dieser Stelle dürften wir bei den Fragen angelangt sein, die Regie plus Bühne aufwerfen. Kochheim und Gruber haben das Geschehen in das Paris der 1960-er Jahre, am Vorabend der Studentenunruhen im Frühjahr 1968 angesiedelt. Die Jugend geht auf die Barrikaden, nachdem die Kulturbehörde die Cinémathèque française, das geistige und künstlerische Zentrum der „jungen Wilden“ um Godard und Resnais, auf der Suche nach einer neuen Formel für Kultur und Gesellschaft, haben schließen lassen. Anspielungen auf die nouvelle vague, auf Formeln und Symbole einer Avantgarde im Widerspruch gegen alles Etablierte, versuchen, dieses Regie-Konzept plausibel zu machen. Wiebke Meiers Kostüme adaptieren Stilelemente jener Zeit, das Filmplakat zu Godards Le Mépris mit Birgitte Bardot erscheint originalgetreu. „Neues Kino“ ist die Metapher dieser unruhigen Zeit. Rodolfo agiert milieugetreu im ersten Bild mit einer Schmalfilmkamera. Erweitert ist die Männer-WG um eine junge Frau mit Namen Françoise, offenkundig getrieben von der Idee, ein erstes Filmengagement zu ergattern. Katja Friedenberg agiert in der stummen Rolle lasziv bis linkisch unter der Direktive, die Groupies der 1968-er Bewegung à la Anita Pallenberg zu kopieren.

Ob diese „Aktualisierung“ geeignet sein kann, den Entwicklungsprozess zweier Liebespaare verständlich zu machen, bleibt unerfindlich. Grotesk wird die Selbstverliebtheit von Szene und Ausstattung in die einmal gewählte Orts- und Milieuverschiebung im üblicherweise pompösen Schluss des zweiten Bildes im Quartier Latin. In Kassel strömen die Akteure von Opernchor und Extrachor aus dem Cinéma, um sich mit dem Personal der Pariser Straßen und Plätze zu vereinen und als bunte Menge dem schönen Tambourmajor zu huldigen. Puccinis musikalische Ausgelassenheit korreliert hier mit Stereotypen von der Stange, vom Clochard bis hin zum Gaukler und Straßenschauspieler. Glücklicherweise hält es die Chöre samt Kinderchor nicht davon ab, nach Herzenslust und gekonnt zu singen. Ein Extrapunkt hierfür an Marco Zeiser Celesti und Maria Radzikhovskiy.

Musikalisch hat die Kasseler Bohème unter der Leitung von Alexander Hannemann ohnehin hohes Niveau. Das Staatsorchester entwickelt nach atmosphärischen Zögerlichkeiten zu Beginn große Spielfreude, Verismo-Wucht in den hochdramatischen Augenblicken, subtile Zartheit in den Momenten höchster Innerlichkeit. Die Harfe in den Solo-Hits von Rodolfo und Mimi sowie deren Duett im ersten Bild, dann wieder im erbarmungslosen Finale mit Mimis Aushauchen des Lebens erfüllt den ganzen großen Raum und schafft Augenblicke des Opern-Glücks. Apropos: Beglückend spielen und singen an diesem Abend die Damen, allen voran Jaclyn Bermudez als kurzfristig die Rolle übernehmende Mimi, als die sie schon am Theater Hagen beeindruckte. Bermudez, Kassels Rosalinde in der aktuellen Fledermaus-Produktion, spielt die todesnahe Näherin berührend, bringt uns ihr kurzes Glück und zähes Leiden mit einem technisch untadeligen, prachtvollen Sopran wunderbar nah. Den angehenden Mediziner im Kasseler Publikum hätte ich sehen wollen, der diese junge Frau im Stück nicht behandelt hätte! Anna Nesyba vom Opernstudio Kassel ist eine glutvolle, zur Exaltiertheit neigende Musetta, wie es der Plot verlangt. Hier und da jedoch eine Spur zu affektiert. Ihr Sopran beherrscht alle Nuancen vom Robusten über das Verhaltene bis zum Highlight, dem Musetta-Walzer.

Unter Kassels Künstler-Kommunarden gibt es keinen Ausfall. Marian Pop als Marcello, Tomasz Wija als Schaunard und Hee Saup Yoon in der besonderen Rolle des Colline bewältigen ihren jeweiligen Part gekonnt und engagiert. Hingegen arbeitet sich Johannes An in der Glanzrolle des Dichters Rodolfo erst nach und nach in die Form hinein, die die Rolle braucht, soll sie nicht nur Mimi, sondern das ganze Auditorium faszinieren. Sein Tenor wirkt anfänglich angestrengt, vor allem in der Mittellage, erreicht zum Glück in den Bildern drei und vier sichere Höhe und Strahlkraft. Da schon dem Paar der Liebe das Glück verwehrt bleibt, soll doch wenigstens das Publikum das Glück der Oper erleben dürfen und den Hunger nach mehr wecken. Das Publikum kam eh schon aufgeräumter Stimmung. Im Schlussapplaus bestätigt sich das noch einmal, gesteigert. „Tout va bien“, heißt einer der Filmtitel auf den WG-Plakaten. Das ließe sich auch über Kassels La Bohème schlussendlich sagen. Nicht das schlechteste Resümee.

Ralf Siepmann

Fotos: N. Klinger