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Fakten zur Aufführung 

WALLENBERG
(Erkki-Sven Tüür)
13. Juli 2012
(Premiere am 7. Juli 2012)

Badisches Staatstheater Karlsruhe

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Held wider Willen

Die Menschen brauchen Heroen, und wenn sich ein halbwegs geeigneter Kandidat diesem Mechanismus verweigert, dann wird er dazu gemacht, wird auf einen Sockel gestellt und Touristen bestaunen sein Denkmal, doch sein wahres Schicksal interessiert nicht. So passt der Schwede Raoul Wallenberg genau in dieses Raster, sein Leben und mutmaßlicher Tod indes sind ein bewegendes Drama. Kurz zum zeitgeschichtlichen Hintergrund. Wallenberg stellt sich, nach kurzem Zögern, der Aufgabe, in Budapest 1944/45 Juden zu retten, indem er schwedische Schutzpässe ausstellt und dadurch etwa 100 000 ungarische Juden dem Zugriff von Adolf Eichmann entzieht; der allerdings triumphiert in zynischer Rechnung über Wallenberg, denn seine Deportationsrate in die Todeslager beträgt das Dreifache. Wallenberg selbst gerät schnell in das Mahlwerk des Kalten Krieges, wird von den Russen als Spion verhaftet, vom Westen fallen gelassen, und seine Spur verliert sich nach wenigen Jahren. Möglicherweise hat er in irgendeinem Gulag recht lange überlebt. Die Welt interessiert sich irgendwann nicht mehr für ihn; andere Heroen wie Oskar Schindler treten ins öffentliche Blickfeld.

Der Este Erkki-Sven Tüür hat aus dem Stoff nach dem punktuell zugreifenden  Libretto von Lutz Hübner eine packende, mitfühlende Oper geschaffen, die vor elf Jahren in Dortmund uraufgeführt worden ist. Jetzt am Badischen Staatstheater Karlsruhe ist die Zeit reif für eine Umsetzung, die vor allem die geradezu grotesken, absurden Umstände einer völlig aus den Fugen geratenen Welt berücksichtigt, in der Normen außer Kraft gesetzt sind und jeder Stempel mehr gilt als ein Leben. Diese Sicht von Regisseur Tobias Kratzer, gemeinsam mit Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier, trägt unmittelbar. Die Diplomaten-Frauenstimmen werden durch die drei Bunny-Häschen Tiny Peters, Christina Bock und Sarah Alexandra Hudarew verkörpert, Wallenberg hat die goldbetresste Diplomatengala an, seine russischen Schergen saufen und stiefeln mit Gewehrkolben zur Folter. Die Juden tragen statt Stern anonymisierende Masken,  und ein Kellerverschlag symbolisiert Sammellager und Deportationsgerät. Eindringlich gelingt im zweiten Akt die surreale Aufspaltung der Wallenberg-Figur, wenn der bestens disponierte Bassbariton Tobias Schabel sein Gedächtnis verliert, dafür aber der Heldentenor Matthias Wohlbrecht mit stolzgeschwellter Brust die Rolle des Idols auskostet. Dunkel und zynisch zugleich gestaltet Renatus Meszar den Eichmann, anrührend gelingt Ina Schlingensiepen die Zeichnung einer Jüdin, die ihren Schutzpass zurückgibt, weil sie das Überleben nicht ertragen kann, wenn ihre Familie nicht mehr existiert. Rebecca Raffell setzt als „Eine Dame“ dem jungen Wallenberg heftig zu, um ihn vom Budapest-Rettungstrip abzuhalten. Doch selbstquälerisch listet Wallenberg die verlorenen Minuten auf, in der Juden getötet werden. Er wird zum Helden wider Willen.

Die Badische Staatskapelle bewegt sich mit Kapellmeister Johannes Willig mustergültig in der Partitur von Erkki-Sven Tüür, dem von Klangflächen-Schraffur bis arioser Introvertiertheit, von greller Dramatik bis feinfühliger Illustration viele und immer genau gesetzte Mittel zur Verfügung stehen. Insbesondere die Chorszenen in der Einstudierung von Ulrich Wagner sind von prägender Intensität.

Einige aus dem Publikum verlassen zur Pause das Opernhaus, die anderen spenden höflich-freundlichen Beifall. Wallenberg ist keine leichte Kost, aber ein notwendiges Stück musiktheatralisch aufgearbeiteter Zeitgeschichte.

Eckhard Britsch

Fotos: Jochen Klenk


Leserbrief von S. Berger: "Die beste Inszenierung seit langer Zeit am Staatstheater Karlsruhe. Weiter so! Solche Leute braucht das heutige Theater."