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Fakten zur Aufführung 

RICCARDO PRIMO
(Georg Friedrich Händel)
23. Februar 2014
(Premiere am 21. Februar 2014)

Badisches Staatstheater Karlsruhe


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Exquisites bei Kerzenlicht

Drei Superlative heben die Neuinszenierung von Riccardo Primo bei den Internationalen Händel-Festspielen 2014 am Badischen Staatstheater in den Rang eines Ereignisses: Der argentinische Countertenor Franco Fagioli, schon 2010/11 Karlsruhes glanzvoller Ariodante, in der Titelpartie, die Deutschen Händel-Solisten mit ihrem musikalischen Leiter Michael Hofstetter und die historisierende Regiekonzeption des Franzosen Benjamin Lazar im Gespann mit Ausstatterin Adeline Caron und Kostümbildner Alain Blanchot.

Das Wesentliche nun der Reihe nach. Riccardo Primo, uraufgeführt im November 1727 am Londoner Haymarket Theatre, rangiert zeitlich zwischen Händels Admeto aus demselben Jahr und Siroe, der einige Monate später auf die Bühne gelangt. Libretto und Partitur sind noch einmal passgenau auf Händels Zugpferde im Stall der Royal Academy of Music zugeschnitten: den Altkastraten Senesino, damals der größte und teuerste Star seines Fachs, die beiden nicht minder gefragten Sopranistinnen Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni. Der Stoff hat heroische und patriotische Dimensionen und schon insoweit einen Bonus bei der feinen Gesellschaft Londons. Riccardo I ist der englische König Richard Löwenherz, der auf dem Kreuzzug nach Jerusalem bei schlechter See mit seiner Flotte auf Zypern notlandet, diverse kämpferische und amouröse Konflikte zu überstehen hat, ehe er Costanza, seiner Auserwählten, ewige Liebe schwören kann. Die Oper, danach mehr als 200 Jahre bis zur Wiederaufnahme 1964 so gut wie vergessen, stellt im Rückblick den wohl letzten Höhepunkt der Glanzzeit des Opernunternehmers Händel dar. Die Beggar’s Opera, im Januar 1728 uraufgeführt, versetzt dem Impresario praktisch den Todesstoß. Das Publikum bleibt aus.

„Vom Musikalischen her“, schreibt der Händel-Biograph Walther Siegmund-Schultze, „ist das Werk keineswegs schlechter als die vorangegangenen.“ Seine besondere Qualität sieht er in der „beachtlichen Virtuosität vieler Gesänge“ der Protagonisten. Unter dem Eindruck der Karlsruher Aufführung fast schon ein Understatement. Nimmt man eine der raren Einspielungen der Oper auf Schallplatte oder CD als Maßstab, zum Beispiel die des Kammerorchesters Basel unter seinem Dirigenten Paul Goodwin von 2008 mit Lawrence Zazzo in der Titelpartie, wird die exquisite Gesamtleistung der Karlsruher Riccardo-Reanimation und -Restrukturierung voll bestätigt und erst richtig bewusst. Dominiert dort routinierte Barock-Statik quasi vom Fließband, realisiert Michael Hofstetter, Generalmusikdirektor des Stadttheaters Gießen, am Pult der Deutschen Händel-Solisten die dramatischen wie die intimen Sequenzen des Seria-Szenarios mit einer Spiel- und Detailfreude vom Allerfeinsten. Ob Breitbandformat in den Militaria, ob subtile Feinheit in den Passagen der Innigkeit – die Barockspezialisten musizieren mit einer Intensität und einer Empathie, als hätte Händel höchst selbst die Proben geleitet. Gekonnt fröhlich die Hörner, royal erschallend die Trompeten und – erstmals bei Händel – energisch pochend die Pauke. Ein kleines Wunderwerk die Sopranarie im Dialog mit der Traversflöte. Koloraturen hier und ihnen folgende Variationen dort, als würden himmlische Vögel durch den Raum schweben.

Unter den Sängern ist Fagioli der Star des Abends und mit seiner stupenden Stimme ein vermutlich adäquater Nachfolger des großen Senesino, ohne dessen Schicksal in Gänze zu teilen. Wie er mit langem Atem und scheinbar mühelos einzelne Töne hält, brüske Umschwünge von der Alt- in die Baritonlage und zurück zum Alt meistert, um sich dann wieder in olympische Höhen aufzuschwingen ist derzeit in der Welt in dieser Perfektion wohl nicht ein zweites Mal zu hören. Das Verweilen inklusive Crescendo und Decrescendo auf dem ersten Ton seines Arioso Quanto tarda im zweiten Akt ist mit dem überstrapazierten Begriff Stimmakrobatik gewiss nicht voll erfasst. Das Publikum jedenfalls genießt, verharrt in intrinsischer Faszination, mucksmäuschenstill. Ähnlich gebannt lauscht es im Finale desselben Aktes, in dem sich Riccardo und Costanza in dem überirdisch schönen Liebesduett T’amo si vereinen.

Auch bei den anderen Sängerinnen und Sängern ist viel Potenzial zu hören. Emily Hindrichs, Neumitglied im Karlsruher Ensemble, ist eine gefällige Costanza mit vielversprechenden Perspektiven. Allein acht Arien hat Händel der Cuzzoni auf die Stimme geschrieben, die jetzt die Karlsruher Costanza weidlich für ihre Profilierung beim Publikum zu nutzen versteht. Claire Lefilliâtre als Pulcheria, Tochter des zypriotischen Herrschers Isacio, übertrifft sie stimmlich und dann auch in der Wahrnehmung des Saales um Nuancen. Vielleicht hat der Gast aus Frankreich auch lediglich den besseren Abend erwischt. Der zweite Countertenor Nicholas Tamagna in der Rolle des syrischen Fürsten Oronte ist eine unerwartet positive Überraschung. Der junge Spezialist für Alte Musik verfügt über höhensicheres Material, Ausdruck und Artikulationssicherheit. Der Bass Lisandro Abadie als Isacio, auch er Argentinier und Händel-Afficionados als Göttingens Siroe aus dem vergangenen Jahr ein Begriff, gibt den starrsinnigen Herrscher mit wohligem Schrecken. Last not least rundet Ensemblemitglied Andrew Finden als Costanzas Bruder Berardo das Sänger-Sextett gekonnt ab.

1975 verblüffte Stanley Kubrick mit Barry Lyndon, der Verfilmung des Romans von William Makepeace Thackeray über das Leben eines jungen irischen Abenteurers, die Kinowelt. Um die Rokoko-Stimmung der Epoche authentisch wiederzugeben, drehte Kubrick einige Szenen ausschließlich bei Kerzenlicht. Auf nämliche Weise entzückt Regisseur Lazar seine Anhängerschaft mit Inszenierungen von Barockopern, die sich auf diese natürliche Lichtquelle beschränken. Sein Versuch, mit Riccardo Primo die Barockästhetik der Händel-Zeit zu rekonstruieren, ist seine erste Regiearbeit im deutschsprachigen Raum. Kerzenlicht also, Darsteller in prätentiösen, steif-schweren Kostümen der okzidentalen wie der orientalischen Aristokratie, spärliche drehbare Kulissen, die mal die Festungsmauern zu Zypern, mal das Innere eines Palastes visualisieren, mobile Baumreihen und nützliche Treppen sind Stilelemente, die im optischen Ensemble die Suggestion der wahrhaftigen Teilhabe an einer Aufführung im Haymarket Theatre vermitteln. So oder fast, erzählt uns der Illusionskünstler Lazar, Gaukler und Verführer in einem, dürfte sie gewesen sein, die Verwirklichung der Kunst der Oper mit den begrenzten Aufführungsmitteln der Zeit vor 300 Jahren.

Clou und Verstörung zugleich dieses Experiments, die Ursprünge des Genres der heutigen Aneignung zugänglich zu machen, sind die Bewegungsabläufe der Protagonisten, sofern von Bewegung im fließenden Sinne überhaupt die Rede sein kann. Riccardo und Co. sind über lange Rezitativ- und Arienstrecken vorn an der Rampe postiert, bewegen sich monoton und langsam wie Figuren in einem Marionetten-Theater. Die schweren Kostüme scheinen sie wie in Panzern gefangen zu halten, der Blick ist starr in den Saal gerichtet. Die Hände ringen bei den ewigen Wiederholungen in den stereotypen Attitüden von Leid und Leidenschaft, als wolle der Regisseur alle Vorurteile gegenüber der Oper als „Stehtheater“ etwa aus der frühen Wagner-Ära neu beleben. Die Edelfräulein bewegen sich in lebensfremden Posen des Sittlichen an sich. Die Ritter und Kreuzzügler stilisieren ihre Beschwörungen des Schwerterkampfes zu Ritualen, wie wir sie aus Versatzstücken der Commedia dell’arte zu kennen glauben. So entsteht eine eigene, extrem artifizielle Theaterwelt, die der heutigen Aufführungspraxis, zumal unter dem Stichwort „Regietheater“, so quer liegt wie die von Rössern gezogene Kutsche zum Überschallflugzeug. Apropos: Lazar liefert gewollt oder ungewollt mit seiner Inszenierung einen Kontrapunkt zur andauernden Debatte um das Regietheater, der die Pauschalkritiker desselben noch einmal nachdenklich stimmen könnte. Zurück zur Barockästhetik der Händel-Zeit wird wohl kaum jemand wollen. Wohin aber bitte schön dann?

Ob und in welchem Maße Lazars historisierendes Regiekonzept mit dem eingebauten Modus more of the same über fast vier Stunden trägt, ist wohl letztlich Sache eines jeden Einzelnen. In Karlsruhe gibt es Jubel reichlich, primär für das prächtig musizierende Personal, wohl auch für das Team der Illusionisten, wie zu spüren ist. Sie ist eben sinnlich und bleibt lebendig, die alte junge Kunst der Oper, auch wenn wir sie in einer Renaissance erleben, die sich nur die listigsten Archäologen ausdenken können.

Ralf Siepmann







Fotos: Falk von Traubenberg