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Fakten zur Aufführung 

DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN - BLUTNACHT
(Lill, Kuntz, Werno)
21. Januar 2012
(Welturaufführung)

Pfalztheater Kaiserslautern


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Im Wald der Mythen

Zwölf Bände Wolfgang Hohlbeinscher Fantasy – Die Chronik der Unsterblichen – auf  zweieinhalb Stunden Rockoper zu reduzieren, ist kein leichtes Unterfangen. Zumal sich der Autor in seinem Opus magnum nichts weniger vornimmt, als die Sinnfrage anzugehen. Hohlbein und sein Autorenteam Dieter Winkler und Andy Kuntz durchforsten den Wald der Mythologumena, legen die Axt an die Ataraxie der nordischen Gottheiten an, eskamotieren sie als Ursache des menschlichen Leidens und geben eine unerwartet milde Antwort auf die Schuldfrage. Sie  verweisen auf die Diastase, die sich zwischen Logos und Nomos der Katholika auftut, ohne ins Klischeehafte und allzu Naheliegende abzuflachen, sie bedienen sich des Dracula-Mythos und dechiffrieren ihn als Vergötterung der Diesseitigkeit,  von Bacchantentum und Darwinismus. Graf Dracula als Dionysos redivivus. Die Blutnacht verweist auf die großen Blutnächte, die im Namen des braunen und roten Sozialdarwinismus über Europa gekommen sind. Compassion heißt konsequenter Weise das Erlösungswort.

Man muss das Genre Fantasy nicht mögen, man muss die Geschichte nicht unbedingt verstehen, um diese Rockoper zu lieben. So liebevoll ist es, wie das Texter- und Komponistenteam zu Werke gegangen ist: jede Sequenz trägt sich selbst, und spätestens bei der Erlösung der toten Kinder belegen die Taschentücher, dass die Botschaft angekommen ist.

In Szene gesetzt wird das Ganze als Götterwette, Menuhe lebt ihren modifizierten Sommernachtstraum, Loki ist nicht so böse wie in der nordischen Vorlage. Am Ende siegt die Menschlichkeit und die sie bedingende Endlichkeit. Der Friedhof als Symbol des ewigen Friedens. Ein Schuss Feuerbach und eine Prise David Friedrich Strauß. Nicht zu vergessen Freud und der ewig junge Vater-Sohn-Konflikt.

Regisseur Urs Häberli erweist sich als Glücksfall für diese Welturaufführung. Aus Sequenzen wird ein Ganzes, jede Einzelszene hat ihr eigenes Tempo: Bilder, die tragen, Personenführung, die Witz an Stelle von Klamauk setzt. Ironisierend, nicht parodierend. Bunt und prall, zugleich mit feinen Pastellfarben.

Die Kostüme von Michael D. Zimmermann sind so fantasiereich wie es dem Genre zukommt, von schlicht bis schrill in allen Nuancen. Sein Bühnenbild ist kongenial: wenn Zeit und Raum sich sichtbar an den Rändern auflösen und Dali-würdig zerfließen, der gusseiserne Riesenring, der dem Nibelungen zur Ehre gereichen würde, im Innenkreis illuminiert wie ein Reifen für den Löwen. Wände, die sich zu Rotunden zusammenfügen lassen, überdimensionierte Speere der Göttlichen, nach unten gesenkt, Orakeln gleich die Niederlage der Asen andeutend. Gewollte Anleihen an Wallhall, den Herrensitz des Rings, dann wieder Hochsitze für das unheilige Götterpaar, einem Schiedsrichterstuhl beim Tennis ähnelnd, dort wo Pasolini das Wüstenkönigspaar zur lüsternen Wette bittet, hier das Phantom der Oper, wenn die Gondel über die Bühne gleitet, trotzdem keine Hightech-Ausstattung. Das hat diese Inszenierung nicht nötig. Köstlich die Badewanne, die für die Blutnacht bereit steht, in die dann die überlistete Blutgräfin stürzt - die schon besser ausgesehen habe. Wunderschön der Einfall, zu Beginn die Figuren per Videoeinspielung einzuführen. Alle beeindruckenden Videoclips sind aus der Hand des renommierten Karl-Heinz Christmann.

Die Musik, die die drei Mitglieder der Prog Metall Rockband Vanden Plas produziert haben – Stephan Lill, Andy Kuntz und Günter Werno – ist das Beste und Differenzierteste, was die deutsche Kultband bisher auf den Markt gebracht hat. Von der Ballade bis zur Sakralmusik, vom Duett bis zum Ensemble, Kinderchorpartien, die jedem Webber-Musical zur Ehre gereichen würden. Die Instrumentalisierung ist absolut rockig, dann wieder zarte Stimmungsmalerei, von hart bis lyrisch. Wer nicht in den Orchestergraben schaut, kann nicht glauben, dass vier Musiker so große Musik erzeugen können, neben Günter Werno und Stephan Lill  Andreas Lill und Torsten Reichert.

Leadsänger Andy Kuntz glänzt in der Hauptrolle des Andrej Delàny mit unglaublicher Ausdrucksstärke, jetzt auch ein exzellenter Fechter und mit einer geborenen Rockstimme, die jede Höhe meistert, emotional überwältigend. OJ Lynch überzeugt in der Rolle des Nubischen Adlatus Abu Dun sowohl schauspielerisch als auch sängerisch mit seiner ansprechenden Rock- und Musicalstimme. Astrid Vosberg als nordische Göttin Meruhe ist mal trotzig, dann wieder verliebt. Mit ihren Rockballaden unterstreicht sie einmal mehr die Bandbreite ihres Könnens. Alexander Franzen als Wettgegner Loki ist eine Top-Besetzung, eine Stimme, die unter die Haut geht. Manuel Lothschütz, der fechtende schwarze Ritter, erweist sich als Marius, der lebendig begrabene Sohn des Andrej. Die schöne Stimme ist erstaunlich reif, das Spiel überzeugend. Maria  wird anmutig gesungen und gespielt von Julia Steingaß. Alexis Wagner in der Doppelrolle des perfiden Klerikers Domenicus und des abstrusen Doktors Scalsi klingt dämonisch mit sonorem Bass. Denis M. Rudisch als Oberkind ist wunderbar verspielt und mit einer vielversprechenden Musicalstimme ausgestattet. Maciej Salamon spielt mit Inbrunst den Grafen Dracul. Geertje Nissen, wie Alexis Wagner aus dem Opernfach kommend, interpretiert die Blutgräfin umwerfend komisch und zeigt, dass sie auch eine hervorragende Rocksängerin geworden wäre. Tabea Floch als Bess, Anna Port und Gabriele Rusch als Kija und Nefra sowie Stephan Müller in der Rolle des buckligen Vlad wissen zu gefallen.

Herausragend sind die Leistungen des Extrachors und des Kinderchors des Pfalztheaters, einstudiert von Ulrich Nolte. Dass Kaiserslautern über ein Ballett der Extraklasse verfügt, zeigen einmal mehr die Tänzerinnen und Tänzer unter der Choreografie von Stefano Gianetti.

Das Publikum tobt, es gibt 20 Minuten Zugaben. Alle Altersgruppen sind sich einig: dieses Stück hat eine Zukunft weit über Kaiserslautern hinaus.

Frank Herkommer



Fotos: Hans-Jürgen Brehm-Seufert