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Fakten zur Aufführung 

BORIS GODUNOW
(Modest Mussorskij)
12. Juni 2012
(Premiere am 9. Juni 2012)

Pfalztheater Kaiserslautern

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Russische Seelenschau

Kurt Josef Schildknecht versteht es, in der russischen Seele zu lesen. Sie ist das Kontinuum in allen historischen Umbrüchen. Herrscher und Systeme kommen und gehen, es bleiben der Hang zu tiefer Volksfrömmigkeit, mit ihren Starez, Gottesnarren und staatstragenden Popen und Patriarchen,  die unendliche Leidensfähigkeit und die immer auf der Lauer liegende Lust am anarchischen Aufstand.  Geschickt nutzt die Regie die verschiedenen Ebenen, die die Bühne  zulässt. Mal verschwindet das geknechtete Volk halb in  der Versenkung und klagt aus tiefster Not  sein Leid. Dann, sich seiner  Bedeutung über die Religion bewusst werdend, auf einer Höhe mit ihren Herren. Die Bühne wird eingerahmt von einem Gerüst, das veranschaulicht: Russland ist in der Entwicklung, alle Machtstrukturen sind nur Hilfskonstruktionen, die die Herrschenden, Kirche wie Staat, letztendlich nicht schützen können vor dem geballten Volkszorn. Chiliastische Bewegungen gehören zu Russlands Seele,  die auch unter der roten Fahne daherkommen können. Verschwörungstheorien haben immer Saison.  Die Lust am Märtyrertum hält sich die Waage mit brutaler Repression, in deren Ausübung  sich Herrscher und Beherrschte treffen. Im letzten Bild gerät ein Bojare in die Fänge des Volkes, er wird entkleidet, gedemütigt und mit Kot überschüttet, die Regie stellt in der Figur der Domina den sexuellen Aspekt all der Gewaltexzesse heraus, die die russische Geschichte begleiten. Zu der Aberglaube gehört, der sich mit tiefer Sehnsucht nach Erlösung verbindet. Mit  Herrschern, die sowohl als  Hoffnungsträger wie als  Despoten in ein und derselben Person vorzufinden sind,  oft am Rande des Wahnsinns und patriarchalischen Größenwahns taumelnd. Alle lässt Schildknecht auf den Vorhang projizieren, von Iwan Grosny bis zur Erotomanin Katharina, von Lenin über Stalin bis hin zu Putin. Als Boris Godunow zum Zaren ausgerufen wird, die sich herabsenkenden Glocken werden seine Todesglocken sein, tritt das Volk auf, und Schildknecht malt die Gemengelage unter Zar Wladimir zum Zweiten: Rote Strukturen, Etatismus, Polizeistaat und Obrigkeitsdenken, aber auch religiöse Weihen durch die staatstragende Orthodoxie. Aus einer Mischung der Urfassung mit der so genannten Originalfassung gelingt Schildknecht, eine schlüssige Geschichte zu erzählen,  die die Unruhen nach dem Tod Godunows einschließt und mit prophetischen Sätzen über Russlands schwere Zukunft unter der Herrschaft der Sowjets endet. Personenführung, Raumerfassung, Auswahl des Gesangensembles: eine absolut überzeugende Regieleistung. Die auch psychologisch  stimmt. Jede Figur bekommt ein unverwechselbares Gesicht. Große russische Oper in Kaiserslautern.

Mit einem Bühnenbild von Rudolf Rischer, das nachhallt. So viele Facetten, so viel Bewegung, so viele eindrückliche Bilder. Eine Meisterleistung. Deren Qualität die Kostüme von Gera Graf in nichts nachstehen. Russland ohne Verkitschung, Bojaren in ihren Pelzen, das Volk in seiner Uniformität, wenn es als Masse auftritt, Lichtgestalten in weiß, der Gottesnarr als Christus im Kinderwagen, die Royals royal, Grigorij in der Uniform Stalins, schon um die Schönheiten des Bühnenbildes und der Kostüme  genießen zu können, lohnte sich ein zweiter und dritter Besuch.  Die Lichtspiele, in Szene gesetzt von Harald Zidek, entfalten kleine stimmige, untermalende Psychogramme.

Atemberaubend die Leistung des Orchesters unter dem Dirigat von  Till Hass. Zwischen Furor und Seelenmalerei, die ganze Tiefe der Musik Mussorskijs kommt zum Ausdruck. Ein Chor, der seine tragende Rolle in der Komposition wahrnimmt, der in die tiefsten Seelenschichten der Hörer vordringt, anklagend und freisprechend, glaubhaft und intensiv, schauspielerisch und choreografisch bestens aufgestellt. Stimmlich überragend. Uli Nolte hat erreicht, was zu erreichen ist: Ein Chor der Extraklasse, verstärkt durch Extrachor und einen entzückenden Kinderchor.

Was für ein Ensemble! Luciano  Batinic begeistert stimmlich wie als Mime.  Der progressive Wahnsinn, die innige Liebe zu seinem Sohn, Schuld und Sühne, alle Affekte wirken authentisch. Gehetzt wirkt er, die schwarzen Erinyen, zu denen die Ammen mutieren, verfolgen ihn starr und schweigend vom Gerüst. Die Stimme von einer großen Strahlkraft und Schönheit. Idealbesetzung.  Wie Manfred Hemm in der Rolle des alten Historiographen und Mönches Pimen. Alles nur nicht alt, von großem Volumen und unverwechselbarem Klang seine Stimme. Peter Florch ein  Gottesnarr, der mal an Marcel Marceau erinnert in seiner Bewegung, dann wieder an Christus; dessen strahlender Tenor so viel Charakter eingezeichnet hat, dass er hervorragend in die Rolle passt. Ein dämonischer Schuiskij, den Andrew Zimmerman exzellent auf die Bühne bringt. Dem die klammheimliche Freude am Intrigenspiel in Bewegung, Gesichtsausdruck und Gesang anzumerken ist. Besser kann man den Schuiskij nicht darstellen.  Eine Hanna Larissa Naujoks, die der Rolle des Zarewitsch Feodor Glanz verleiht. Ideal für eine Hosenrolle, die Stimme kultiviert und farbenreich.  Großer Beifall auch für Michael Hauenstein, die Stimme weit ausgreifend,  ein dröhnender, an Suff und Überleben interessierter Warlaam. Steffen Schantz mit seinem unverwechselbaren Schmelz gibt dem falschen Dimitrij Charakter, Geertje Nissen eine wunderbare Amme, die mit Puppen spielt und wirft. Susanne Pemmerl in der Rolle der naiven Trauertochter Xenia glänzt mit ihrem schönen Koloratursopran. Daniel Böhm mit seinem weichen, farbigen Bariton  in der Rolle des Geheimschreibers,  Christina-Mirl Rehm als Schenkwirtin, die erfrischend jung und erotisch auftritt.  Sie kommt wie Alexandru Popescu, der komödiantische zweite Bettelmönch, aus dem Chor und stellt unter  Beweis, dass sie auch für höhere Aufgaben geeignet ist. Beide gehören ebenso zum insgesamt überzeugenden Ensemble wie Alexis Wagner mit eleganter Stimmführung als Bauer, Michael McBride in der Rolle des Leibbojaren Radoslaw Wielgus als sonorer Jesuit an der Seite von Tschernikowskij, dem Miroslaw Maj in lateinischer Sprache mit großer Inbrunst Stimme verleiht.

Ein müdes, überaltertes  Publikum, das Haus nur zu zwei Dritteln gefüllt. Viele Abonnenten sind erst gar nicht erschienen. Stell dir vor,  es geschieht Sensationelles und keiner bekommt es mit. Einige haben dann doch gejubelt und bravi verteilt. Diese Inszenierung hätte mehr verdient.

Frank Herkommer

 



Fotos: Markus Kaesler