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Fakten zur Aufführung 

SEMELE WALK
(Georg Friedrich Händel,
Ludger Engels, Vivienne Westwood)
27. Mai 2011 (Premiere)

KunstFestspiele Herrenhausen
Hannover, Herrenhäuser Gärten, Galerie


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Zu viel wollen

Entfesselte Welten lautet das Motto der zweiten KunstFestSpiele Herrenhausen. Intendantin Elisabeth Schweeger nimmt damit Bezug auf den Titel der deutschen Übersetzung eines der zentralen Werke des bedeutenden britischen Soziologen Lord Anthony Giddens – Runaway World. Giddens hat nicht nur zahlreiche Publikationen vorgelegt, stand neben anderen Tony Blair als Berater zur Seite. Er kam auch zur Eröffnung der Festspiele nach Hannover und sprach mit viel Humor über ein ernstes Thema: das Streben der Menschen, immer besser zu werden, immer mehr zu können und zu wissen, immer mehr Fortschritt zu erreichen – und was die Kehrseite davon ist, der Klimawandel, ganz aktuell das große Thema Atomenergie und die Folgen. Unsere Welt ist also entfesselt. So war Giddens Vortrag nicht nur für die folgenden drei Wochen Festspiele ein unbedingt würdiger Auftakt, sondern im besonderen auch für den Eröffnungsabend.

Semele, die mythologische Figur, von Ovid im dritten Buch seiner Metamorphosen ausführlich dargestellt, verkörpert den barocken Gedanken der Entfesselung nachdrücklich. Sie ist besessen von dem Willen nach Unsterblichkeit, ewiger Schönheit. Sie fordert ihren Geliebten Jupiter auf, er möge ihr nicht in Gestalt eines Menschen, sondern in seiner unmittelbaren göttlichen Gestalt erscheinen. Das wird ihr zum Verhängnis. Sie verbrennt in der Wolke, als die Jupiter ihr erscheint. Aus ihrer Asche kann das ungeborene Kind Semeles und Jupiters geborgen werden – Dionysos.

Händel nahm sich dieser Figur in seinem 1744 uraufgeführten ‚weltlichen Oratorium‘ an. Dieses heute nicht mehr allzu oft aufgeführte Werk ist der Ausgangspunkt für den fulminanten musiktheatralen Auftakt der Festspiele. Der zentrale Gedanke, mit diesem Festivalformat vor allem die Verbindung der verschiedenen Kunstdisziplinen zu exponieren, greift hier in großartiger Weise. Regisseur Ludger Engels hat eine Zwei-Personen-Show entworfen. Semele und eine Art Gegenpart mit der Bezeichnung In-Between, der allerdings mehr ist als nur ein Pausenfüller zwischen Semeles Gesängen, dazu der kommentierende Chor.

Für die szenische Umsetzung ist Mode das Schlagwort. Die barocke Pracht des Galeriegebäudes in den Herrenhäuser Gärten bietet sich geradezu an, einen Catwalk über die gesamte Länge zu errichten. Das Publikum sitzt nicht wie im Theater, sondern eben wie bei einer Modenschau, sich gegenüber, in der Mitte die scheinbar unerreichbare Welt des Laufstegs. Models schreiten diesen ab. Sie tragen Couture von Vivienne Westwood. Die Punk-Lady der internationalen Modeszene, die mit ihrem Stil – den vor allem das Überwinden der Grenzen zwischen den Stilen ausmacht – wie geschaffen ist für diesen Abend. Semele ist Teil dieser Modewelt, will aus den hermetischen Grenzen ausbrechen. Dabei begegnet ihr eben jene Gestalt In-Between. In ihr sind Teile der Jupiter-Partie zusammengefasst, sie ist aber auch eine Art Spiegel für Semele, der ihr ihre maßlosen Wünsche vor Augen hält. Der kommentierende Chor sitzt, konsequenterweise, mitten im Publikum, als Beobachter von außen, greift nur punktuell ins Geschehen auf dem Laufsteg ein.

Musikalisch ist ein Extrakt aus Händels Original zu hören, das zwischendurch immer wieder durch elektronisch verzerrte Streicher- und Lautenklänge, Anlehnungen an Metal, Elemente aus Punk und Rock unterbrochen wird. Zwischen Semeles Ende und dem Schlusschor gibt es, gesungen von den Instrumentalisten, als sinnfällige Einlage den Song Sweet dreams are made of this des britischen Duos Eurythmics aus dem Jahr 1983. Die Musiker des Solistenensembles Kaleidoskop unter der äußerst versierten Leitung von Olof Boman bewegen sich beeindruckend sicher zwischen diesen scheinbar so gegensätzlichen, letztlich aber doch zusammenpassenden klanglichen Welten. Und Teile von ihnen werden eben, in Westwood-Couture, immer wieder in das Geschehen auf dem Laufstieg mit einbezogen.

Die Sopranistin Aleksandra Zamojska als Semele und der Countertenor Armin Gramer als In-Between sind nicht nur großartige Händel-Interpreten, sie lassen sich vor allem durch dieses ungewöhnliche Experiment einer szenischen Umsetzung ganz und gar infizieren und tragen so wesentlich dazu bei, dass neben den überbordenden optischen Reizen der Kreationen Vivienne Westwoods das musikdramatische Ereignis stets der Mittelpunkt bleibt. Das ist aber auch das Verdienst der szenischen Konzeption Ludger Engels.

Der Norddeutsche Figuralchor unter der Leitung von Jörg Straube bewies schließlich einmal mehr, dass er unter den semiprofessionellen Chören weit über die Grenzen der Region hinaus zu Recht hohes Ansehen genießt und sich nahtlos in einen solchen Abend einfügen kann.

Rauschhaft war nicht nur die Aufführung, sondern auch die Begeisterung des Publikums danach. Zusammen mit den Gedankenanstößen Anthony Giddens‘ zum Auftakt ist dieser Eröffnungsabend ein großes Kunstwerk geworden. Jeder Zuschauer kann für sich entscheiden, welche Form der ausgebreiteten Künste ihn am ehesten anspricht. Das Gesamtergebnis hat alle überzeugt. Und das noch so junge Festival bestätigt die im vergangenen Jahr begonnene Richtung, nicht nur für Hannover zu einem hoch ambitionierten Format zu werden.

Christian Schütte

 









Fotos: KunstFestSpiele Herrenhausen