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Fakten zur Aufführung 

KRAWALL
(Jasper Sonne)
8. November 2013
(Uraufführung)

Junge Oper im Ballhof, Staatsoper Hannover


Points of Honor                      

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Die Welt in Brand

Krawall ist ein aus den grossentheils rath- und thatlosen Aufständen des Herbstes 1830 herrührendes, nach einem dunklen Sprachgefühl gebildetes Wort“, beschrieb Friedrich Ludwig Karl Weigand das Wort 1857 im Deutschen Wörterbuch.

Krawall ist allgegenwärtig. Krawall gibt es unter jungen und alten Menschen, unter Menschen verschiedener Religionen, unter Menschen verschiedenen Standes. In England brannten Autos, in Griechenland, aber auch in Ägypten. Hier beginnt die Geschichte der drei Jugendlichen Dave, Sophia und Muhammad, die das Musical Krawall erzählt. Sie alle erleben Gewalt, Ungerechtigkeit, Korruption und Tod in ihren Ländern, die sie in den Widerstand und in die Gewalt treiben.

Nach einer Explosion finden sich die drei wie aus dem Nichts gemeinsam an einem Ort außerhalb von Zeit und Raum. Dave, Muhammad und Sophia haben augenscheinlich nicht viel gemeinsam: Sophia aus Griechenland kommt aus einer gutbürgerlichen Familie und träumt von einer Karriere als Finanzbeamtin. Muhammad aus Ägypten musste erleben, wie das Geschäft seiner Eltern unter den politischen Verhältnissen Bankrott ging, die Familie zerbrach und die Mutter sich an einen anderen Mann verkaufte, um das Studium ihres Sohnes zu finanzieren. Dave aus London stammt aus der Unterschicht, lebt in zerrütteten Familienverhältnissen und sucht Anerkennung im Milieu von Drogendealern. Und trotzdem scheitern sie an der Wirklichkeit und haben sich deshalb dem Protest angeschlossen: Dave ist bei den Ausschreitungen und Plünderungen in London dabei, Muhammad ist Kind des Arabischen Frühlings in Kairo und kämpft in seinem Land für menschlichere Verhältnisse, und Sophia geht in Griechenland gegen die von der Wirtschaftskrise verschärfte Ausweglosigkeit auf die Straße. Was die drei verbindet, sind ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen, die in Wut und Aggression umschlagen; sie erleben, wie der Protest sich zuspitzt und sich in einer Handlung entlädt: Alle drei haben soeben ein Auto angezündet…

Die Thematik, derer sich Martin G. Berger annimmt, ist natürlich unglaublich umfangreich und sehr politisch geprägt. Durch diese drei Einzelschicksale wird sie aber greifbar und verständlich. Das Schicksal der reichen griechischen Tochter Sophia, deren Schwiegervater in spe sich umbringt, weil nicht sein Sohn, sondern Sophia die Stelle des Finanzbeamten bekommt, ist plötzlich so nah. Der ägyptische Widerständler Muhammad, dessen Mutter enttäuscht ist, weil er gegen die Machtverhältnisse in seinem Land demonstriert, ruft zutiefst empathische Gefühle hervor. Und sogar der schnoddrige und bewaffnete Drogendealer Dave, dem eingeimpft wurde, gefälligst glücklich zu sein, wird den Zuschauern vertraut. Berger schafft es, mit einer großen Ernsthaftigkeit und Aufgeklärtheit an die Themen Korruption, Gewalt und Ungerechtigkeit zu gehen. Trotzdem ist das Stück auch mit feinsinnigem Humor gespickt. So beispielsweise in der wunderbaren Szene, als Dave, sein Drogenboss und ein weiterer Dealer im Auto – dargestellt durch Stühle – vor der Polizei flüchten: Minutenlang wird das gleiche, fröhliche Lied gesungen, man wippt im Takt und die Polizisten unterstützen die Flucht mit Hupgeräuschen und Gebrüll. Am Ende wird der Drogenboss erschossen und Dave ist völlig niedergeschlagen – er war schließlich seine Familie. Berger schafft eine tolle Kombination aus beiden Gefühlsregungen, die er dem Publikum zugesteht, und die das Stück noch menschlicher begreifbar machen.

Die bühnentechnische Umsetzung verantwortet Sarah-Katharina Karl. Sie leistet Fantastisches! Die Geschichten, die die drei Protagonisten früher erlebt haben, geschehen zunächst hinter einer Art schwarzem Vorhang, der sich dann öffnet und die Geschichte hautnah erzählt. Ob die Flucht im Auto auf den Stühlen oder das befriedete Essen am kleinen Tisch von Sophias Familie, ihre Einfälle unterstreichen das Geschehen großartig. Auch die Kostüme von Silke Bornkamp sind toll gewählt. Sie legt sich ins Zeug mit einer orientalischen Bauchtänzerin, der verschleierten Mutter Muhammads, die gleichzeitig die schrille Ehefrau des Drogendealers ist, dem goldkettenbehängten Drogenboss oder den spießig gekleideten Eltern Sophias.

Fast alle Schauspieler haben mehrere Rollen. Das schnelle Umziehen, ständig in andere Rollen zu schlüpfen klappt perfekt. Als Sophia glänzt Anna Müllerleile. In ihrer Rolle ist sie so wütend und durchsetzungsstark, man nimmt ihr die von den Eltern und dem System enttäuschte Jugendliche absolut ab. Auch George Jakob gibt den mutigen, verletzen, gut erzogenen und wortgewandten Muhammad absolut glaubwürdig. Den Engländer Dave spielt Daniel Schulz. Er hat ein loses Mundwerk und präsentiert den aggressiven Drogendealer fantastisch und überzeugend. Eun-Ji Park gibt die selbstsichere Mutter Sophias mit stimmlicher Varianz. Als ihr sowie Daves Vater kann Byung Kweon Jun mit ausdrucksstarkem Bariton überzeugen. Anna Bineta Diouf als Muhammads Mutter zeigt wieder einmal, welche Klasse die Sänger der Musikhochschule Hannover haben. Stella Motina als Angebetete Muhammads ist die verführerische Bauchtänzerin einerseits, die überzeugte Muslima andererseits, sie unterstützt ihre Rolle mit ihrem kraftvollen Sopran. Nicolas Kröger als Drogenboss hat so gar nichts Gefährliches, seine Auftritte sind fast komödiantisch. Lediglich Gevorg Hakobjan als Sophias Lebensgefährte kommt mit seinem lyrischen Tenor leider nicht gegen das Orchester an.

Jasper Sonne hat die unglaublich stimmungsvolle Musik des Musicals geschrieben, die von Siegmund Weinmeister dirigiert wird. Von Swing über Jazz, von Filmmusik bis zu tatsächlicher Klassik sind alle musikalischen Einflüsse vorhanden. Weinmeister führt das Niedersächsische Staatsorchester sicher und motiviert durch diese herrlich stimmungsvolle Partitur.

Das Publikum zeigt sich mit minutenlangem Applaus von dem Musical begeistert. Fantastisch, was die Junge Oper mit ihrem Ensemble da leistet.

Agnes Beckmann

Fotos: Lena Obst