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Fakten zur Aufführung 

DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
(Richard Wagner)
22. September 2013
(Einmaliges Konzert)

NDR-Radiophilharmonie, Kuppelsaal


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Das Volk hat gewählt

Es ist Wahlsonntag, 18 Uhr. Eigentlich sollte jetzt das Saisoneröffungskonzert der NDR-Radiophilharmonie im Kuppelsaal des Kongress-Centers beginnen. In jeder Reihe blicken Zuschauer auf ihre blinkenden Smartphones. Dann endlich etwas Musik – halt, nein, das ist nicht Wagner, sondern die berühmten vier Akkorde der Tagesschau. Der Vordermann nutzt wie viele andere die moderne Technik, um sich über die erste Hochrechnung zu informieren. Stifte werden gezückt, Zahlen auf Notizzettel gekritzelt, die neugierigen, technikarmen Nachbarn informiert. Chefdirigent Elvind Gullberg Jensen tritt 18.05 Uhr auf, als habe er bewusst diesen Moment verstreichen lassen wollen. Und prompt stemmen er und sein Orchester sich mit einer scharf-dramatischen Ouvertüre gegen Zahlen und Fragen an. Als der von Wagner später nachkomponierte sogenannte Tristan-Schluss der Ouvertüre in die vorangegangene, stürmische Welt aus Meer und Sehnsucht hereinflutet wie eine Sonne am Horizont, ist ihm die Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Zumindest bis zur Pause, denn Jensen nutzt noch eine andere Fassung Wagners und unterbricht nach dem ersten Akt. Und wo man auch hinhört: An den Tischen herrschen die Kürzel CDU, SPD, FDP und AfD.

Dabei wären doch Namen wie Bruns, Youn und Salminen viel angemessener gewesen. Immerhin demonstriert der erste Akt, was für ein gesangliches Niveau man erwarten kann. In einem öffentlichen Interview fürs Publikum hat Bass-Veteran Matti Salminen zuvor durchblicken lassen, dass er sich auf diese konzertante Aufführung freut, weil er und seine Kollegen ohne Regieeinflüsse jeder Art die Geschichte des fliegenden Holländers erzählen können. Nebenbei gibt er eine Art Versprechen ab, dass man wohl einen spannenden Abend erleben wird. Salminen allein besitzt genügend Potenzial, dieses Versprechen einzulösen. Denn der finnische Bass hat sich die Partie des Daland zu 100 Prozent zu Eigen gemacht. Jeder Satz, ja jedes Wort trifft genau den Punkt und wird unterstrichen durch kleine Gesten und Bewegungen. Auch Benjamin Bruns gibt als Steuermann alles, humpelt mit Hilfe einer Krücke auf die Bühne und singt so makellos lyrisch, dass ihm alle Mädels und Herzen zufliegen. Samuel Youn wirkt zu Beginn noch nicht bestens disponiert. Da hört sich die Tiefe recht massig an, die Höhe dagegen etwas flacher, die Stimme etwas angeraut. Doch Youn lässt seiner Leidenschaft freien Lauf und löst sich immer mehr von diesen kleinen Einschränkungen. Schon bald thront sein Heldenbariton auf seinem angestammten Platz und man erlebt den Südkoreaner auf gleichem hohen Niveau wie bei der diesjährigen Aufführung in Bayreuth. Dieser Holländer hat seine düsteren Geheimnisse, ist aber ein Mensch aus Fleisch und Blut, voller Sehnsucht nach Liebe und Heimat. Seiner Senta wirft er nach ihrem Treueschwur im zweiten Akt begeistert Kusshändchen zu. Wie Youn ist auch Anja Kampe dem Wagner-Belcanto verpflichtet. Ihre Senta lebt vom innigen, leisen Wunsch, diesen Mann erlösen zu dürfen und kann auch dramatische Kräfte freisetzen, um sich den Freiraum dafür zu verschaffen. Leicht getrübt wird diese nahezu ideale Interpretation nur durch einige sehr gespreizte Spitzentöne. Bei Endrik Wottrichs Erik verbergen sich hinter einem etwas weinerlichen Grundklang unterdrückte Aggressionen, denen er erst im dramatischen Finalterzett freien Lauf lässt. Gleichwohl dürfte sein dunkel timbrierter Tenor etwas freier und strahlender klingen. Alexandra Petersamer führt vor, dass man die Amme Mary charakterstark und wohlklingend zugleich singen kann.

Dieses prominente Ensemble fügt sich mit der NDR-Radiophilharmonie zu einer Wagner würdigen Geister-und Liebesgeschichte zusammen. Dirigent Jensen fordert sie mit großem energischen Schlag dazu auf, sie zu erzählen. Meist wählt er flüssige, italienisch anmutende Tempi, aus denen aber immer schon das zukünftige Musikdrama Wagners heraus hervor lugt. Dementsprechend gibt es auch viel Kontrastreiches zu hören: Naturgewalten, düstere Gespenster, zärtliche Augenblicke, romantische Erlösung. Die Radiophilharmonie weiß, wie sie ihre Hörer musikalisch abholen muss. Was an diesem Abend etwas fehlt, ist die Flexibilität in der Begleitung der Sänger.

Der Auftritt von Seemännern und Spinnstubenmädchen ist etwas für Lokalpatrioten: Der Johannes-Brahms-Chor Hannover, der Mädchenchor Hannover, der hannoversche Oratorienchor und Mitglieder des Staatsopernchores Hannover sind aufgeboten. Gudrun Schröfel und Stefan Vanselow haben die Sänger bestens musikalisch vorbereitet. Die Damen kichern über Sentas Schwärmerei, um sich im nächsten Augenblick in einem magischen Piano mit Anja Kampe verbinden: Ach könntest du bleicher Seemann es finden… Die Herren werfen sich mit maskulinem Elan an die Taue und Bierkrüge. Während sich die Geschlechter über Gespenster streiten, findet das Drama im Publikum statt. Ein Zuhörer rutscht ohnmächtig vom Sitz, kann aber später gestützt auf den eigenen Beinen aus dem Raum nach draußen gebracht werden. Unter solchen Umständen bekommen die lautstarken Wacht doch auf!- Rufe eine ganz andere Intensität.

So homogen die Chöre in der Musik auftreten, so chaotisch ist das optische Bild. Eine genaue Absprache, wer wann aufsteht und sich wieder hinsetzt oder die Reihenfolge eines Auftritts scheint nicht stattgefunden zu haben. Stattdessen werfen sich kleine Grüppchen untereinander irritierte Blicke zu, weil die einen schon stehen, wo andere noch sitzen. Wirklich professionell wirkt nur der Mädchenchor Hannover, der geschlossen auf- und abtritt. In ihren roten Jacken wirken sie gegenüber dem rein in schwarz gekleideten, zahlenmäßig überlegenen Rest des Chores wie ein politisches Omen.

Während der Aufführung sieht man im Publikum viele leere Gesichter, als wären sie mit ihren Gedanken woanders. Doch am Wahlsonntag, gegen 20.35 Uhr, steht die Entscheidung fest. Mit lautem Klatschen und kräftigen Bravos stellt sich das Publikum als absolute Mehrheit auf die Seite von Richard Wagner und seine ausführenden Spitzenkandidaten. Das muss gefeiert werden, und Matti Salminen fragt auf dem Weg nach draußen: „Wo bekomm ich denn hier ein Bier?“

Christoph Broermann

Fotos: Micha Neugebaur/NDR