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Fakten zur Aufführung 

GEOMETRIE DER LIEBE
(Michael Rauter)
1. Juni 2012
(Uraufführung)

Herrenhäuser Kunstfestspiele, Hannover

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

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Fragmente einer Familiengeschichte

Teorema – Geometrie der Liebe ist ein Film des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini von 1968. Es geht darum, dass ein Fremder, ein Gast, in eine wohlhabende Mailänder Industriellenfamilie eindringt und dort für allerlei emotionale Verwirrungen sorgt. Vater, Mutter, Sohn, Tochter und die Haushälterin sind gleichermaßen fasziniert von ihm, lassen von ihm ihr Leben kräftig durcheinander wirbeln. Es geht – auch – um die Dekonstruktion einer Familie, die in ihren großbürgerlichen hermetischen Regeln funktioniert, in der Gefühle allerdings wenig Platz haben. Das führt unweigerlich zu Spannungen, zur Zerbrechlichkeit dieses familiären Konstrukts. Das sicher wird der entscheidende Grund gewesen sein, warum Regisseur Alexander Charim und Michael Rauter, Gründer und Leiter des Solistenensembles Kaleidoskop, Pasolinis Film als Grundlage ihres Musiktheaterprojekts Geometrie der Liebe gewählt haben, das jetzt zur Eröffnung der dritten KunstFestSpiele Herrenhausen unter dem Motto „Fragiles Gleichgewicht“ uraufgeführt worden ist.

Das barocke Galeriegebäude in den Herrenhäuser Gärten in seiner langgestreckten Gestalt ist sicher ein Raum, der wegen seines an sich vollkommenen Ungeeignetseins für theatrale Veranstaltungen gerade deswegen reizvoll sein kann. Darin liegen freilich auch Tücken. Bühnenbildner Ivan Bazak hat im ersten Teil, der bis zur Abreise des Fremden reicht, durch den Raum verteilt auf sechs Podesten die Zimmer der Familie gebaut. Die Zuschauer sitzen davor, daneben, drumherum. Das holt einerseits das Publikum ins Geschehen, macht es andererseits aber auch schwierig, von jedem Platz aus immer das ganze Geschehen im Blick zu behalten. Die Ausstattung der Zimmer sowie die Kleidung der Protagonisten – die Kostüme sind von Aurel Lenfert – wirken recht unspektakulär, sind stilistisch weder eng ans Heute noch an die Entstehungszeit des Films angelehnt. Alles wirkt relativ normal und alltäglich.

Alexander Charim inszeniert einzelne Sequenzen aus dem Film als Schauspiel mit untermalender, illustrierender, Stimmungen erzeugender Musik. Eine entscheidende Rolle spielt die Musik in dieser Produktion kaum. Ob da von Musiktheater die Rede sein kann, bleibt am Ende als Frage zurück. Schade ist es jedenfalls, dass die Musiker des Solistenensembles Kaleidoskop nicht mehr zeigen können. Dass das viel sein könnte, lassen ihre wenigen Einsätze immerhin erahnen.

Schauspieler also stehen auf der Bühne. Und die dürfen zu Beginn noch nicht einmal sprechen. Die kalte, beherrschte und wenig liebevolle Atmosphäre innerhalb der Familie kehrt Charim dadurch hervor, dass er die Protagonisten zunächst schweigen lässt. An die Wände projizierte Texte geben die Situationen wieder. Und dazu erklingt, als Uraufführung in der Uraufführung, 34‘ von Michael Rauter, eine vor allem mit minimalistischen Mitteln arbeitende Komposition für Streicher, die das Geschehen fast zum Erliegen zu bringen droht. Die bürgerliche Idylle, etwa beim gemeinsamen Essen, untermalt ein Streichquartett von Franz Schubert. Schuberts Erlkönig in einer Fassung für drei Violinen kommt später zum Einsatz, dann, wenn das Moment der Verführung aller durch den Fremden zur Schau gestellt wird. Die Auswahl der Musik zu den einzelnen Szenen ist also durchaus stimmig und es entstehen so immer wieder spannende Szenen. Dazwischen gibt es allerdings auch Längen. Besonders im zweiten Teil, jetzt sitzt das Publikum auf einer aufsteigenden Tribüne und sieht die Familie im Chaos, das der Fremde hinterlassen hat, in einer Kulisse aus durcheinandergeworfenen Möbeln und Kisten. Hier spielt Musik nur noch eine sehr punktuelle Rolle, das Gewicht liegt ganz auf ausgedehnten Monologen der Protagonisten, bevor sie sich alle verabschieden und schließlich zu einer kurzen Sequenz als Monteverdis L’incoronazione di Poppea, einer der seltenen gesungenen Momente des Abends, aus diesem Stück scheiden. Was genau der Besuch des Fremden bewirkt, welche Konsequenzen er für die Familie hat, bleibt dabei allerdings offen.   

Sicher liegt es auch an der insgesamt zu unentschlossenen Konstruktion des Stückes, dass die Schauspieler ihren Rollen nicht immer allzu starkes Profil abgewinnen können. Am ehesten gelingt das noch André Kaczmarczyk als Fremdem, der zu vermitteln versteht, dass er ganz und gar nicht zu den anderen gehört. Stephan Baumecker gibt den Vater Paolo, der sich immer wieder in gleichsam wirtschaftsphilosophischen Ergüssen verliert, Lisa Wildmann seine eher gelangweilte Gattin, Juliane Fisch und Christian Löber die nach ihrem Weg suchenden Kinder und Maria Thomas das Dienstmädchen, das so gern mehr im Leben wäre.

Insgesamt entstehen an diesem Abend durchaus Momente von innerer Spannung, die das Dilemma der Familie zum Ausdruck bringen. Gerade diese Familie bleibt aber in der Summe doch allzu beschaulich, da könnte es mehr Tiefen, Abgründe, stärkere Profile geben.

Der Abend ist beim Publikum angekommen, das am Ende zwar nicht unendlich langen, aber sehr wohlwollenden Applaus spendet.

Christian Schütte



Fotos: Mahramzadeh