Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

DE GEHANGENEN
(Josse de Pauw, Jan Kuijken)
5. Juni 2011

Orangerie, Herrenhäuser Gärten
KunstFestSpiele Herrenhausen


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Menschen am Seil

Die Seile, an denen die fünf Protagonisten in Josse de Pauws und Jan Kuijkens Musiktheater hängen, stehen nicht nur für die dünnen Fäden, an denen unser aller Leben hängt. Sie sind auch ganz unmittelbar zu verstehen, denn hier geht es um gehängte Menschen. Die fünf hängen über den Musikern des Orchestre Royal de Chambre de Wallonie in einem dunklen Raum hinter einem durchsichtigen Vorhang. Mehr Bühnenraum und –bild ist nicht nötig, um die Eindringlichkeit und bezwingende Dichte dieses faszinierenden Musiktheater-Konzepts zu zeigen.

De Gehangenen ist eine Produktion des LOD Musiktheater Gent in Kooperation mit u. a. dem Théâtre National Bruxelles, Grand Théâtre de Luxembourg, Orchestre Royal de Wallonie und den KunstFestSpielen, die Premiere in Brüssel hat für Furore gesorgt. Der Schauspieler, Regisseur, Autor und Filmemacher Josse de Pauw und der Komponist Jan Kuijken haben bereits in verschiedenen Musiktheaterprojekten in Belgien zusammengearbeitet. Ihr neues Projekt nennen sie auch „dramatisches Konzert“. In der Tat gibt es keine szenische Handlung im eigentlichen Sinn. Fünf Menschen stehen stellvertretend für alle, die zu Unrecht gehängt – oder sonst wie ums Leben gebracht – wurden, die der Willkür staatlicher, kirchlicher oder auch privater Macht zum Opfer gefallen sind. Die fünf Menschen bestehen aus drei Sängern und zwei Schauspielern. Letztere – durch Hilde Van Mieghem und Tom Jansen mit eindrucksvollen Sprechstimmen versehen – verkörpern gleichsam ein altes Ehepaar, das, durch im Tod vereint nebeneinander hängend, darüber spricht, wie es denn früher war im Leben, was sie verpasst haben, was sie sich jetzt noch sagen möchten, wie sie ihren Weg bis zum gehängt werden wahrgenommen haben. Die Texte werden in der Originalsprache Niederländisch gesprochen, eine deutsche Übersetzung wird auf den durchsichtigen Vorhang projiziert. Die Sänger – Sopranistin Janneke Daalderop, Mezzosopranistin Ekaterina Levental und Tenor Steven van Gils, alle Mitglieder des Ensembles VocaalLAB Nederland – singen lateinische Texte, die ebenso wie Übertitel auf den Vorhang geworfen werden. Sie beschreiben damit weniger konkrete Dinge wie die Schauspieler, sondern mehr Gefühlszustände auf abstrakter Ebene, die idiomatisch für das zu verstehen sind, was Menschen fühlen, wenn sie durch missbrauchte Machtstrukturen den Tod finden. Diese lateinischen Sequenzen haben durchaus auch religiösen Charakter als Fürbitten, Klagegesänge, Rehabilitationsversuche. Josse de Pauw und Jan Kuijken haben als Grundlage für ihr Werk eine Messe entworfen – in Anbetracht des Themas wäre da sicher auch der Begriff Requiem angebracht. Übertragen auf die Traditionen der Oper entsteht der Eindruck, den Sängern käme der ariose Part zu, das Innehalten, das Kontemplative, die Reflexion über das Geschehene. Den Schauspielern dagegen kommt mehr der rezitativische Part zu, in dem die Gedanken, die ‚Handlung‘ in Fluss kommt. Damit korrespondiert die Gegensätzlichkeit der Sprachen und darauf gewinnt der Abend seine musikdramatische Qualität.Eingerahmt wird der Abend durch den Satz „Num verberanda sum quod cogito?“ – „werde ich geschlagen, wenn ich denke?“, von einer Kinderstimme aus dem off eingerufen.

Die musikalische Sprache bewegt sich zwischen archaischen Anklängen an längst vergangene Zeiten – wiederum eine Korrespondenz mit der lateinischen Sprache – und ganz modernen Passagen, die mal schroff, mal hohl, mal weich klingen. Neben dem Streicherensemble unter der Leitung von Etienne Siebens greift der Komponist Kuijken immer wieder selbst zum E-Cello und bringt so eine weitere, die Atmosphäre intensivierende Klangfarbe ins Spiel.

Text und Musik vollziehen eine stetig wachsende, gleichsam einander bedingende Spannungssteigerung. Was in diesem Rahmen die Sänger und Schauspieler nur an Seilen hängend künstlerisch und physisch leisten, verdient allen Respekt.

Schade, dass dieser Abend nur ein Mal in Hannover zu sehen war. Begeisterter Beifall für alle Beteiligten.

Christian Schütte

 





Fotos: Hassan Mahramzadeh