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Fakten zur Aufführung 

DIE KLEINE MEERJUNGFRAU
(John Neumeier)
22. April 2012
(Premiere am 1. Juli 2007)

Hamburgische Staatsoper


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Entflohen in die Tiefen des Meeres

Weit draußen auf dem Meer ist das Wasser ganz blau, wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume“, so beginnt Hans Christian Andersens Märchen der kleinen Meerjungfrau. Sie hat sich in einen Menschen verliebt und erhofft sich durch die Heirat mit ihm die Unsterblichkeit ihrer Seele, die Liebe bleibt ihr allerdings verwehrt. Mit eben diesem Satz – bühnenbildnerisch als Postkartenmotiv umgesetzt – beginnt auch das Ballett von John Neumeier, der nicht nur für die Choreografie, sondern auch für das Bühnenbild, die Kostüme und das Lichtkonzept verantwortlich zeichnet. Er erweitert den Kreis der Protagonisten, also Meerjungfrau, Prinz und Prinzessin, noch um die Figur des Dichters. Gemeint ist natürlich Andersen. Da das Ballett aber nicht nur Andersen-Experten verständlich sein soll, belässt Neumeier es bei diesem Oberbegriff. Er unterstreicht so die Parallele zu Andersens eigener Biografie, der in Liebesdingen einen ebenso schmerzlichen Lebensweg wie die Meerjungfrau hatte. Untrennbar sind Dichter und Meerjungfrau miteinander verbunden, wobei der Dichter das Geschehen eher von außen beobachtet und gemäß seinem Skript nur versuchen kann, die kleine Meerjungfrau zu führen und zu formen.

In Neumeiers Ballett gibt es zwei Welten, einmal die farbenfrohe, fast schrille und durch Aktivitäten wie Golfspielen auch etwas oberflächliche Welt der Menschen. Gegenteilig hierzu erschafft er die nahezu perfekte, ruhige und durch die fließenden Bewegungen der Meeresbewohner so anrührende Unterwasserwelt.

Silvia Azzoni als kleine Meerjungfrau verbindet Tanz mit einer präzise ausgearbeiteten Mimik. Das Publikum leidet körperlich mit, als sie vom Meerhexer brutal in einen Menschen verwandelt wird, als sie ihre ersten Schrittchen macht und unbeholfen in der Welt der Menschen herumirrt. Ihre Bewegungen sind anrührend und gipfeln in einen Pas de Deux mit Lloyd Riggins, der den Dichter spielt. Die beiden tanzen synchron, fast, als wäre einer der Schatten des anderen, und haben nur das Ziel, der Welt zu entfliehen.

Lloyd Riggins gibt anfangs den schrulligen Dichter des 19. Jahrhunderts mit Gehrock und Zylinder. Auf einer Seereise erinnert er sich einer unglücklichen Liebe, eine Träne rinnt über seine Wange und fließt in ein Meer von Erinnerungen. Auch er ist tänzerisch und schauspielerisch hervorragend. Wie verzweifelt er ist, als der Prinz sich in die Prinzessin verliebt, wie komödiantisch es wirkt, als er der kleinen Meerjungfrau die Sicht auf die beiden Verliebten nehmen will, indem er sich vor sie stellt. Intensiv vermittelt er sein eigenes Gefühl der Unsicherheit und des außer Kontrolle Geratens des Geschehens.

Carsten Jung als Prinz verzaubert das Publikum durch seine übermütige, leichte Art. Die kleine Meerjungfrau ist keine potenzielle Partnerin für ihn, er sieht sie allerhöchstens als ganz niedlich, vielleicht sogar merkwürdig an. Fast kindisch spielt er mit dem Messer, mit dem sie ihn umzubringen versucht, weil er die Ernsthaftigkeit der Szenerie nicht versteht. Seine angebetete Prinzessin, Helène Bouchet, tanzt äußerst überzeugend und gibt eine Frau von Welt, die sich auch von der kleinen Meerjungfrau, die den Prinzen so oft umgarnt, nicht abschrecken lässt. Selbstsicher nimmt sie den Raum für sich ein, nicht nur durch ihre farbenprächtigen Kleider.

Die Komponistin Lera Auerbach hat nach der Uraufführung die Musik für die Hamburger Fassung überarbeitet. Sie schafft es musikalisch, eine Welt zu kreieren, die fließend, voller Unsicherheit – oft erklingen Dissonanzen – aber auch voller Schönheit ist. Die Violinsoli, die der kleinen Meerjungfrau aus dem Herzen sprechen, zeugen von einer genauen Auseinandersetzung mit dem Stück und wirken geradezu intim. Ab und an wären ein paar ruhigere Töne angemessen gewesen, vor allem in der Meereswelt, die für die Meerjungfrau doch die perfekte Welt darstellt.

Simon Hewett vermag es, mit seinem Orchester diese mitunter stürmischen und rauen Pfade der Musik zu beschreiten. Aber er kann auch die sanften Seiten vermitteln, insbesondere die Solovioline hat großartige Auftritte. Das Ballett profitiert von einem Dirigenten, der es schafft, die beiden Ebenen der Bühne und der Musik sehr schön zu verweben.

John Neumeier gelingt es, ein Ballett zu schaffen, das anrührt, ohne rührig zu sein. Das Leid der Meerjungfrau beziehungsweise des Dichters werden plastisch und greifbar gemacht, und das Publikum dankt dieses mit einem nicht enden wollenden Beifall.

Agnes Beckmann

 

Fotos: Holger Badekow