Fundus   Kommentar    Backstage     Medien     Medientipps     Kontakt     Impressum    Wir über uns  
   Dossier    Kleinanzeigen     Links     Facebook     Partner von DuMont Reiseverlag  
     

Fakten zur Aufführung 

GEGEN DIE WAND
(Ludger Vollmer)
8. März 2011
(Premiere: 26. Februar 2011)

Theater Hagen


Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

Publikum

Chat-Faktor


Rezensionen-Archiv

Aufführungen nach Name
Aufführungen nach Ort


 
 

zurück       Leserbrief

Gegen die Wand

Grundlage von Ludger Vollmers Dreiakter Gegen die Wand ist der gleichnamige Film von Fatih Akın, der 2004 für Aufsehen sorgte und dessen Thematik bis heute aktuell ist. Stichwort: Integration, Ehre, Selbstbestimmung der Frau, Parallelwelten und so weiter.

Gegen die Wand erzählt die Beziehung zwischen Cahit und Sibel, die anfangs nicht mehr ist als eine Zweckbeziehung, die es Sibel gestattet, aus dem Korsett ihrer Angehörigen und deren Vorstellungen vom Familienleben auszubrechen. Cahit und Sibel, beide sind mit ihrem Leben nicht zurecht gekommen, beide haben Selbstmordversuche hinter sich. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine Geschichte voller Gewalt und voller Zärtlichkeit, das Bild von einer Gesellschaft mit klar verteilten Geschlechterrollen, ausgeprägtem Besitzanspruchsdenken – und brutal-egoistischem Verlangen nach Sex.

Norbert Hilchenbach macht alles andere, als den Film mit (opern-)theatralischen Mitteln zu „verdoppeln“. Er macht das Gegenteil und reduziert. Jan Bammes liefert ihm dazu eine Bühne, die nichts weiter ist als eine schwarze Spielfläche mit einer Handvoll Requisiten. Hier gibt es nirgends Bilder, stattdessen voller Energie gespielte Aktionen. Da wird Hochzeit gefeiert und getanzt, da wird langweilig herumgegammelt und ausgiebig kopuliert, da gibt es handfeste Schlägereien, bei der Cahit zum im Affekt handelnden Mörder wird und ins Gefängnis wandert. Das ist vom Ansatz her sicher richtig, wirkt allerdings – gerade im ersten Teil - durch häufige Wiederholungen recht stereotyp.

Die Darsteller sind in ganz besonderem Maße gefordert in dieser personalintensiven Inszenierung, bei der es so sehr auf jeden Einzelnen und jede Einzelne ankommt. In dieser Hinsicht kann das Theater Hagen mit einer durch und durch grandiosen Ensembleleistung punkten. Da greifen Solistinnen und Solisten, Opern- und Extrachor, Statisterie und – nicht zuletzt – das Philharmonische Orchester wie viele kleine Rädchen ineinander, und das mit Perfektion. Radoslaw Wielgus und Kristine Larissa Funkhauser stehen ganz besonders im Mittelpunkt, gehen mit Haut und Haar auf in ihren Rollen. Michail Milanov und Marilyn Bennett hegen als Sibels traditionsbewusste Eltern Zweifel an deren Zukunftsplanung, Svetislav Stojanovic ist Sibels Bruder Yilmaz, der auf nichts mehr Wert legt als auf die Ehre der Familie (und sich später in einer weiteren Rolle noch als einen Istanbuler Barkeeper verwandelt). Marion Costa ist Sibels Cousine, die als Hotelmanagerin Karriere gemacht hat und sich anbietet als erste Anlaufstelle für die verstoßene Sibel, die nach Istanbul flieht.

Dorthin reist Cahit, nachdem er seine Haftstrafe verbüßt und gemerkt hat, dass er echte Liebe für Sibel empfindet. Die Musik gestattet ihm eine lange, ausgedehnte Meditation über diese seine Seelenbefindlichkeit – Pendant zu einem ebenso ausgedehnten, im vorangegangenen Akt angestimmten Lamento, in dem Sibel ihrerseits Gefühle von Liebe und Leid besingt. Das sind beide Male Momente höchster Expressivität.

Ludger Vollmers Komposition verbindet westeuropäische Musiktradition mit der östlichen. Ein überraschendes und überzeugendes Ergebnis. Der Mey (ein Holzblasinstrument), die Saz (eine Art Laute), der Kaval (eine Art Flöte) oder die oboenartige Zurna verströmen orientalisches Kolorit, das sich mit den hierzulande bekannten Klangfarben mischt und kompositorisch mitunter an Kurt Weill und Igor Strawinsky erinnert, dann wieder von orientalisch-liedhaftem Gestus geprägt ist. Wolfgang Müller-Salow leitet das Hagener Orchester und lässt genau das oriental-okzidentale Spannungsverhältnis der Musik Volmers deutlich werden. Ein wirklich berührendes Erlebnis!

In der zweiten Vorstellung ist das Hagener Publikum durchmischt mit Schülerinnen und Schülern, die den Besuch offensichtlich nicht als Pflichtveranstaltung sehen, sondern angespannt und letztlich begeistert folgen.

Ganz ausgezeichnet: die Produktion wird zweisprachig übertitelt, die Produktion wird zweisprachig gesungen, das Programmheft ist zweisprachig: auf Deutsch und auf Türkisch. Und es gibt ein Rahmenprogramm rund um die Inszenierung. Mit Diskussionsveranstaltung, Schauspiel, Akın-Filmnacht... Bildungsarbeit an der Basis und für die Basis! Vorbildlich!

Christoph Schulte im Walde

 







 
Fotos: Stefan Kühle