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Fakten zur Aufführung 

AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY
(Kurt Weill)
22. Mai 2013
(Premiere)

Opernhaus Graz


Points of Honor                      

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Viel Sex und Crime ohne Provokation

Alle sind vorgewarnt. Es werden sogar Vorsichtsmaßnahmen getroffen: Die Premiere wird sicherheitshalber aus dem Abonnement genommen. Der Besuch von Jugendlichen unter 16 Jahren wird von der Intendanz untersagt. Sensationslüstern berichtet die lokale Presse darüber. Die Erwartung und die Neugier sind gewaltig. Nur, der prognostizierte Skandal findet - leider? - nicht statt.

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Bertolt Brecht und Kurt Weill ist nach Gent und Antwerpen in der „provokanten“ Inszenierung von Calixto Bieito nun am Grazer Opernhaus gelandet. Nur, die Provokation findet nicht statt. Da kann noch so in allen Variationen von oben, unten, vorne, hinten und in Gruppen koitiert werden. Da kann noch so gruppenweise onaniert oder gestrippt werden. Da kann noch so sadistisch gequält, gemordet, auf Leichen uriniert, gekotzt werden. Denn wenn ein solches, permanentes Übermaß davon, wie hier, zur Schau gestellt wird, auch wenn das Stück das sehr wohl hergäbe, wirkt das nicht mehr provokant, sondern bloß ermüdend, mäßig interessant und teils sogar lächerlich. Dabei ist die Inszenierung des Katalanen, der als einer der radikalsten Opernregisseure weltweit gilt und immer für einen Skandal gut ist, handwerklich perfekt gemacht. Keine Figur wird übersehen oder ihrem Schicksal überlassen: Alles ist durchchoreografiert und durchinszeniert. Alles hat Biss und Tempo und trotzdem wird man von der unvorstellbaren Flut an Bildern, dem Herumgewimmel und den unzähligen Nebenaktionen so überschwemmt, dass selbst die Haupthandlung unterzugehen droht. Keine Chance besteht auch nur annähernd, alle Aktivitäten, insbesondere alle Obszönitäten, wahrzunehmen.

Halb Campingplatz, halb Homer Simpsons Springfield ist die Bühne, die von Rebecca Ringst stammt. Wohnwagen türmen sich in mehreren Ebenen übereinander und schaffen viele Spielebenen. Es glitzert, funkelt und raucht. Grelle Leuchtschriften mit „originellen“ Sprüchen wie: „As much You can eat“, „As much you can drink“, „As much as you can fuck“ blenden. In grellbunten Comic-Kostümen von Ingo Krügler wimmelt es in der Mischung aus bunter greller Revue, Groteske und schwarzem Humor à la Monty Python, wie auf einem Ameisenhaufen herum in Mahagonny , der Stadt, wo es für Geld alles zu haben gibt, aber derjenige, der kein Geld mehr hat, auch ganz schnell fallen gelassen und zum Tode verurteilt wird. Bieitos Kritik am Kapitalismus mit seinem Aktualisierungsversuch auf die derzeitige europäische Wirtschaftskrise bleibt irgendwie aufgesetzt und künstlich oberflächlich, irgendwie eine bloße Randnotiz.

Aber er gönnt weder dem Publikum noch den Protagonisten eine Pause. Letzteren wird alles abverlangt, und sie agieren erstaunlich: Neben dem voll engagierten und gut singenden Chor, von Bernhard Schneider einstudiert, erweisen sich die meisten als tolle Darsteller und versuchen, mit nie nachlassender Intensität Bieitos Vorstellungen mit der ganzen Kraft ihrer Ausdrucksmöglichkeiten umzusetzen. Margareta Klobucar als verruchte und sexy Jenny Hill ist eine Idealbesetzung. Sie singt mit reinem Sopran, perfekt auch den Hit Moon of Alabama. Herbert Lippert als Jim Mahoney gerät mit seinem ausdruckstarken, höhensicheren Tenor kaum je an seinen Grenzen. David McShane ist ein obergeiler, perverser Dreieinigkeitsmoses im Priesterornat mit Hang zu bösartigem Sadismus. Er bleibt allerdings stimmlich ziemlich blass. Fran Lubahn mit den Resten ihrer körperlosen Stimme als Leokadja Begbick ist zwar nicht darstellerisch, aber sängerisch eine glatte Fehlbesetzung, die auch ausgebuht wird. Die vielen kleineren Rollen sind durchaus adäquat besetzt, einigen fehlt jedoch das richtige Feeling für den Song-Stil des Kurt Weill.

Musik und Stil von Weill liegen dem Dirigenten Julien Salemkour sehr. Enorm ist sein körperlicher und animierender Einsatz, mit dem er die Grazer Philharmoniker zu fetzigem, straffen, rhythmisch pointierten Spiel zu befeuern weiß. Er wird die nächste Saison hier am Haus übrigens mit Wagners Lohengrin eröffnen.

Mit einem Paukenschlag endet Mahagonny: Der Chor singt vom Rang herunter, die Protagonisten schlängeln sich singend durch das Publikum, Aus den Logen werden Transparente herunter gelassen: „We love Mahagonny“. Und so denkt zum Finale offenbar auch das Publikum, es spendet ohne Missfallenskundgebungen reichen Beifall.

Helmut Christian Mayer







Fotos: Norbert Kmetitsch