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Fakten zur Aufführung 

IDOMENEO
(Wolfgang Amadeus Mozart)
25. Januar 2014
(Premiere am 18. Januar 2014)

Stadttheater Gießen


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Wonnen auf goldenem Muschelhorn

Im Sommer 2012 Rossinis monumentaler Wilhelm Tell in einer beeindruckenden konzertanten Fassung unter der musikalischen Leitung Herbert Gietzens. Im Dezember desselben Jahres, an der Schwelle zum Verdi-Jahr, dessen Erstling Oberto ebenfalls konzertant unter Leitung des Gießener GMD Michael Hofstetter. Das Ergebnis dieser hörenswerten Annäherung ist seit kurzem auf dem CD-Markt zu haben. Und nun, ebenfalls unter dem Dirigat Hofstetters, in einer Inszenierung des in ganz Europa gefragten Nigel Lowery Wolfgang Amadeus Mozarts Idomeneo in der Münchener Urfassung von 1781. Seine Opera seria kommt in der Adaption durch das Theater am Berliner Platz im Herzen der Universitätsstadt mit gerade einmal knapp 80.000 Einwohnern fesselnd und verführerisch einher. Die Aufführung hat das Zeug, uns Heutige voll und ganz einzunehmen, mutet sie uns doch an wie zelebriert „auf goldenem Muschelhorn“.

Su concha d’hora – so besingt der Chor gegen Ende des ersten Aktes die Art und Weise, wie Neptun alias Poseidon mit „königlicher Zier“ in diesem Drama aufspielt. Es zeigt uns die fürchterliche Zerrissenheit der von den antiken Göttern gelenkten Protagonisten, wie sie stets in den Wirren nach einem Krieg zu beobachten ist, hier nach Ende des trojanischen Krieges. Mit diesem Idomeneo, dem dritten Wurf innerhalb von nicht einmal zwei Jahren in der Intendanz Cathérine Mivilles, unterstreicht das Gießener Theater seinen Ruf als ein Haus der lohnenden Entdeckungen, in Hessen und vermutlich darüber hinaus.

Mozarts vorletzte und schon früh fast perfekte Opera seria ist ein Mixtum aus dem italienischen Genre und der zu seiner Zeit immer populärer werdenden französischen Oper. Das junge Salzburger Genie hatte es 1778 in Paris in Gestalt von Stücken Grétrys und Rameaus kennengelernt. Dramma per musica oder Tragédie lyrique, je nach Gusto. Giambattista Varescos Libretto bot Mozart die höchstwillkommene Gelegenheit, Arien im italienischen Parforce-Stil mit Ballettmusiken zu kombinieren. Seine Textvorlage ist aus jenem Stoff geschaffen, nach dem seit Händels Zeiten ein Opernkomponist zu gieren pflegt, der sich als Dienstleiter eines verwöhnten und anspruchsvollen Publikums versteht. Seelische Dramen und menschliche Pein, abgrundtiefes Leid und jauchzendes Glück durch den ewigen Zauber der Liebe. Wahrlich tragisch und hochdramatisch ist das Schicksal des Kreter-Königs, der aus Dank über den Sieg vor Troja und seine Rettung aus Seenot den Göttern seinen Sohn zu opfern bereit ist, mithin schuldlos schuldig zu werden droht.

Die Oper auf dem langen Weg zur Erlösung des letztlich geläuterten, weil seine Grenzen reflektierenden Königs reiht ein Vokaljuwel an das andere. Innigliche Solo-Glanzstücke für Idomeneo, Ilia und Idamante, die die spätere Vollendung Mozart in seiner letzten Seria, dem Titus, ahnen lassen, extrovertierte schmerzgetriebene Ausbrüche für die gepeinigte Verliererin in diesem Spiel, Elettra, den Part der Elvira im Don Giovanni schon antizipierend. Ganz zu schweigen von den grandiosen Ensemblestücken mit ihrem definitiven Höhepunkt, dem Quartett Andrò ramingo e solo im dritten Akt.

Besetzungstechnisch ist seit jeher die Figur des Idamante besonders interessant. In Gießen macht sie regelrecht Karriere, wird sie zum Publikumsereignis. Für die Uraufführung im Münchener Karneval hat Mozart sie auf Wunsch des kurfürstlichen Auftraggebers für einen Kastraten geschrieben, damit der großen Zeit der Barockoper seine Referenz erwiesen. Besetzungslisten heutiger Aufführungen weisen sie abwechselnd für einen Tenor oder einen Mezzo aus. Mit dem koreanisch-amerikanischen Countertenor Kangmin Justin in der Rolle des Königssohnes knüpft nun Gießen an das aristokratische Vorläuferformat an. Eine formidable Vorstellung: Der noch jugendlich wirkende Kim könnte von seinem Timbre und der großen Variabilität seiner Stimme her auf Sicht die beachtliche Phalanx der neuen Stars der Kopfstimme noch einmal um einen Player mit Perspektiven bereichern. Als Idamante paart er ein jetzt schon großes Spektrum an Ausdrucksmitteln mit Spielfreude und emotionaler Intensität, im tiefen Leiden ebenso wie in der seligen Freude an der Liebe und der Geliebten. Für das Gießener Publikum ist er der Star des Abends, wobei ihm Naroa Intxausti als Ilia kaum nachsteht. Das feste Ensemblemitglied, vielen noch als beschwingtes Freischütz-Ännchen in Erinnerung, berührt mit seiner scheinbar anstrengungslos geführten Stimme in der Höhe und verzaubert das Auditorium mit zartesten Pianotönen. Großartig Intxaustis Liebesbeschwörung Zefiretti lusinghieri, die man durchaus auch als gekonnte Vorstudie von Vitellias grandioser Arie Non piu de fiori mit obligater Begleitung durch die Klarinette im Titus begreifen und genießen kann. Kirsten Blaise als Elettra spielt ihre große Barock-Erfahrung – etwa aus Produktionen der Händel-Festspiele Göttingen und Karlsruhe – voll aus, schrill und die Luft zerreißend, wo das dem Part geschuldet ist, leidender Furor etwa in der Arie Idol mio, se ritroso, der aus der Erfahrung des Verlustes entsteht. Ganz große Oper, keine Frage.

Vervollständigt wird das rundum positive Erscheinungsbild der Solisten von Bernhard Berchtold in der Titelrolle und – eine kleine Überraschung – Andreas Karasiak als Arbace. Berchtold legt den Idomeneo mit großer Vehemenz an, packend in der Klage, betörend-zerrissen in der Beschwörung des nahenden Scheiterns mit Fuor del mar. Karasiak zeigt sich vor allem in seiner an Koloraturen reichen Arie Se cola ne’fatti è scritto prächtig aufgelegt.

Ein Attribut, das ohne jede Einschränkung auch dem Philharmonischen Orchester und ganz besonders Chor und Extrachor des Gießener Theaters zuzuschreiben ist. Dieser Chor, mal heiter in mediterranem Schwelgen, dann dramatisch etwa in der Konfrontation mit dem Ungeheuer, avanciert in Lowerys Konzept für Regie und Bühne zum eigentlichen Träger der Aufführung. Bettina Munzer, die Kostümbildnerin, hüllt – ungewöhnlich und befremdlich – die Priester in tiefschwarze Gewänder, die konturenscharf die Hauptakteure in Weiß kontrastieren. Überdimensional sind die ihnen aufgestülpten Masken- und Totemköpfe, die furchterregende Erinnerungen an die Instanz der Chöre im Drama der griechischen Antike, an die Vermummungspraktiken im Mittelalter mit Larven und Schemen oder aktuell an Dschihadisten und Islamisten provozieren.

Die formale Instrumentalisierung des Chores leitet sich aus Lowerys Grundverständnis des Dramas ab, das zwar diskutabel ist, allerdings mehr Rätsel aufgibt, als es Fingerzeige zum Verstehen liefert. Roter Faden seiner Deutung und damit auch der Bühnenbilder sind allerlei Varianten von Opferungen und Schlachtungsritualen, heidnischer, alttestamentarischer oder christlicher Provenienz. Das rituelle Töten zur vermeintlichen Besänftigung der Götter wiederholt sich. Mehrfach steigt aus dem Bühnenboden ein überdimensionaler Buchrücken auf, der zur grausigen Opferstätte mutiert. Je nach Tötungsritual zieht mal Rauch auf, der Assoziationen an die Inquisition oder auch den Holocaust zu wecken vermag. Mal fließt Blut, was beim Zuschauen Verbindungen zu diversen Tötungsritualen beschwört, vom Motiv der Opferung des Sohnes Isaak bei Abraham über die Opferorgien bei den Mayas und Inkas bis zum Morden von Soldaten, Kriegsberichterstattern und US-Bürgern im Irak oder in Afghanistan. Adäquat dazu die optische Grundausstattung der Bühne. Düstere Prospekte, die vordergründig eine Glühlampe und eine Blumenvase zeigen oder im Stile eines El Greco symbolbefrachtet einen skelettierten Fuß hinzufügen.

Sicher, Opferung und Läuterung, Schuld und Unschuld sind die elementaren Themen des Idomeneo. Doch muss man das alles drei Mal erzählen? Varescos Libretto ist doch konkret genug. „Ruchlose Hände!“, phantasiert der König unter der Qual seines Gelübdes, noch in der Annahme, er selbst werde Idamante töten müssen. „Grausame, ungerechte Götter. Verfluchte Altäre!“ Warum nicht mehr der Phantasie des Publikums überlassen? Mozarts Musik bildet doch die subtilsten Verästelungen von Geschehen und Empfinden ohnehin ab. Als wolle Lowery seiner eigenen Bildwelt der Verfremdung nicht ganz trauen, präsentiert er vor dem Finale Sängerinnen und Sänger des Chores in Videobildern aus dem Alltag, aufgenommen auf Treppen und Gängen des Gießener Hauses. Und schlussendlich lässt der Regisseur den Chor – ganz der Künstlichkeit der Oper entäußert – in Alltagskleidung Kinderwagen samt Babypuppen durch den Bühnenraum schieben. So als müssten sich die Zuschauer der Möglichkeit gewärtigen, den Figuren des antiken Dramas auf dem Parkplatz des nächsten Baumarkts zu begegnen.

Die Zuschauer haben sich ihr Urteil dank der famosen Musik längst zuvor gebildet. Der Applaus ist voller Begeisterung und währt eine ganze Weile. Gießener Opernglück, wie gesagt, auf goldenem Muschelhorn. Viel mehr kann ein Abend wohl nicht bieten.

Ralf Siepmann

Fotos: Rolf K. Wegst