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Fakten zur Aufführung 

STREET SCENE
(Kurt Weill)
18. Oktober 2012
(Premiere am 22. September 2012)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen


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Traumschloss am Broadway

Rose träumt vom Broadway, von einer Theaterkarriere, während sie aus dem 4. Stock des Mietshauses auf die trostlose Umgebung ihres Wohnviertels in New York blickt. Wieder einmal keift die Nachbarin darunter mit ihrem Mann, vertreibt ein schrilles Girl mit kläffendem Schnauzer im Arm eine Obdachlose aus der Mülltonne, quietschen die halbgaren Jungen und Mädchen der Highschool um die Wette und tratschen immer dieselben Nachbarinnen vor dem Haus über immer dieselben unmöglichen Nachbarn: Alltag in einer Straße eines dunkleren Bezirks in New York um 1920. Hierher verläuft sich weder ein Rockefeller noch die Polizei, höchstens die Leute vom Ordnungsamt, die wieder einmal eine Wohnungsräumung durchsetzen und einen Mieter an die Luft setzen – Alltag, Ordnung muss sein!

Die selten gespielte Oper Street Scene, 1947 in New York uraufgeführt, betrachtet Weill als „das größte und gewagteste Projekt, das ich bisher unternommen habe“. Diesmal wolle er eine „wirkliche Oper für das Broadway-Theater“ schreiben. Außer einer neuen, „amerikanischen“ Musik hat er einen Stoff im Sinn, der die dunklen Seiten New Yorks und die Alltagsprobleme der Menschen zeigt. Diese Idee nimmt Gil Mehmed, ein erfahrener Event-Regisseur in seiner von der Bayerischen Theaterakademie August Everding im Prinzentheater übernommenen Inszenierung für das MiR auf . In der „American Opera“ erzählen Kurt Weill, Elmer Rice und Langston Hughes von den Banalitäten des Straßenalltags einfacher Leute, die unbeirrt und unausweichlich forward in the dark laufen. Letztlich findet keine der Figuren einen Ausweg aus dem Leben, in dem miese Umstände das Bewusstsein bestimmen. Selbst der einzige „Intellektuelle“ in dieser Mietskaserne, der viel belesene Sam Kaplan steht in der Schlussszene am Abgrund, und die verträumte Rose bleibt, nach allen Liebesenttäuschungen, ohne Perspektive allein auf ihren Phantasien sitzen…

Mit einem einfachen Trick hat Heike Meixner ein stilistisch sicheres und vielfach deutbares Bühnenbild geschaffen. Eine schräg auf seine Rückseite gelegte Mietskaserne, unansehnlich in schmuddeligem Grau, zeigt alle Insignien dieser trostlosen Wohnmaschinen wie TV-Schüsseln, Blumenkästen, das Leben auf Balkonien, davor den Müllcontainer, die Quatsch- und Tratschecke. Die Fenster, mal erleuchtet, mal dunkel, öffnen sich, wenn hier ein Ehemann seine Frau bedroht, da ein Baby zur Welt kommt und dort Schüsse fallen. Mit sparsamem Licht, das manches im Dunklen lässt, holen Benjamin Schmidt und Jürgen Rudolph die Protagonisten mit Spotlights ins Bild, die Kostüme legt Steffi Bruhn zeitnah modern, bei einigen Rollen schrill an.

Bernhard Stengel führt ein verkleinertes Orchester sicher in den neuen Sound der Weill-Oper. Mit flottem Tempo, kräftigen Trompetenakzenten und gefühlvollen Klarinettenpassagen unterstreicht er die wechselnden Stimmungen auf der Bühne. In Weills Musik, der der Dreigroschenoper durchaus ähnlich, schimmern gelegentlich Foxtrott oder Charleston durch, tauchen Jazzelemente des frühen Swing auf und erklingen vor allem bei den Songs von Anna und Rose romantisch-melancholische Opernphrasen.

Die Solopartien sind durchweg stimmlich bestens besetzt, allen voran mit Noriko Ogawa-Yatake in der Rolle der Mutter Anna und Dorin Rahardja als Rose. Ogawa-Yatake gibt der Mutter mit ihrem weichen Sopran eine gefühlvoll lyrische Note, Dorin Rahardjas Rose hat mehr jugendlich-frischen Schwung und Dramatik. Vor allem diese beiden Stimmen zeigen mit arienähnlichen Songs die Nähe zu klassisch-romantischen Vorbildern, an denen sich Weill bewusst orientiert. Joachim G. Maaß gibt einen mürrisch verschlossenen Vater Frank, der mit tiefer Stimmlage durch die Szene poltert, ohne nachdenkliche Phasen zu übertönen. In der Rolle des unglücklichen Liebhabers steigert sich Bücherwurm Lars-Oliver Rühl im zweiten Akt in mehreren Songs zu berührend-dramatischen Reflexionen, die viel Ariencharakter erkennen lassen. Die zahlreichen kleineren Partien, von den Gratulationsgirls über den Milchmann oder den Hausmeister bis zu den Frauen der Heilsarmee passen bestens in die Szene und sind mit ihren Songs flott dabei. Daniela Günther hat den Chor mit dem nötigen Schwung einstudiert.

Hervorzuheben sind die Tanzbeiträge von Marie Lumpp und Matthias Kumer, die in einer vom Publikum stürmisch gefeierten Tanzeinlage gekonnt den alten Boogie aufleben lassen und ein choreografisches Feuerwerk auf die Bühne bringen. Dagegen wirkt die von Folkwang-Studenten gespielte Kinder-/Schüler-Gruppe gestelzt, staksig, gelegentlich albern. Es ist wohl sehr schwer, Kinder und Jugendliche glaubhaft und ohne Verdrehung auf die Bühne zu bringen.

Der Alltag, die Ordnung, die Weill hier aus einem New Yorker Stadtbezirk musikalisch auf die Bühne zeichnet, findet sich ähnlich heute in Berlin-Marzahn oder in Gelsenkirchen-Bismarck - die Menschen dort, die Unterprivilegierten, sind sich sehr ähnlich. Weill hat seine Absicht betont, die dunklen Seiten des Lebens zu zeigen. Er komponiert eine Musik, die „das Wahrnehmen des Leidens der unterprivilegierten Menschen, der Unterdrückten, der Verfolgten“ schildert , das sei „reiner Weill“.

Bei aller Freude über die insgesamt gelungene Aufführung fragt sich der bestens unterhaltene Zuschauer, wo Weills weitergehende Frage geblieben ist: Um wessen Ordnung geht es hier eigentlich? Kurt Weills politische Motive und Anliegen bleiben in dieser unterhaltenden Inszenierung verborgen, verdeckt. Ob es überhaupt gelingen kann, fast einhundert Jahre später in einem opernähnlichen Musical eine politische Botschaft zu transportieren ? Vielleicht fallen heute diese beiden Pole zu weit auseinander, vielleicht haben sich unsere politisch-künstlerischen Ausdrucksformen verändert, sind unter dem Eindruck von „Die toten Hosen“ oder „Mutabor“ um so vieles radikaler geworden, dass wir die kritischen Gesten eines Musicals übersehen. Jedenfalls bedürften sie eines völlig anderen Regiezugriffs. Während die Musik dieser amerikanischen Oper bestens „überkommt“, fällt der politische Impuls unter den (Regie)tisch.

So bleibt ein abwechslungsreicher Abend hoher Qualität, der die unterschiedlichen Stilelemente und Stimmungen dieses späten Weillschen Musiktheaters gut zur Geltung bringt, seine politische Botschaft aber als Fußnote, als historische Reminiszenz behandelt. Die Zuschauer fühlen sich bestens unterhalten und bedanken sich begeistert mit anhaltendem Beifall. Schließlich beginnt für sie auch in Gelsenkirchen am nächsten Tag wieder – der ganz banale Alltag.

Horst Dichanz

Fotos: Pedro Malinowski