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Fakten zur Aufführung 

DER KAISER VON ATLANTIS
(Viktor Ullmann)
7. April 2013
(Premiere)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Points of Honor                      

Musik

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Vorsicht – Longlife forte

Auf der Treppe zum Kleinen Haus des MiR in Gelsenkirchen erwarten zwei Jugendliche die Besucher der Oper Der Kaiser von Atlantis. Sie tragen schwarze T-Shirts mit dem Aufdruck „Gast auf Erden“ und bieten mit ernster Miene aus einer Medikamentendose bunte Pillen an. „ Darf ich Ihnen eine Kapsel `Longlife-Forte` anbieten?“ , fragen sie geschäftig, „sie macht Sie unsterblich, verleiht ihnen das ewige Leben.“ – Wir sind mitten im Thema, mitten in der Oper: Viktor Ullmann hat diese Oper 1943/44 in unmittelbarer Konfrontation mit dem täglich möglichen Tod während seiner Haft in Theresienstadt geschrieben, konnte aber die Aufführung nicht mehr realisieren, da er im Herbst 1944 zusammen mit zahlreichen anderen Künstlern nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Wahrhaftig kein leichter Stoff! - Und doch gelingt es Ullmann musikalisch und dramaturgisch, eine Parabel um den Tod auf die Bühne zu bringen, die durch ihre Leichtigkeit und durch fröhliche, dem Leben zugewandte Elemente nicht in schwarzer Finsternis versinkt. Weil der Tod seinen Dienst verweigert und niemand mehr stirbt, werden Kriege sinnlos, gerät die menschliche Gesellschaft durcheinander.

Diesen Doppelcharakter der Oper unterstützt Carsten Kirchmeier durch eine sparsame, aber sehr wirkungsvolle Inszenierung, in der er surreale Merkmale betont, gleichzeitig aber den Figuren durchaus realistische Züge gibt. Selbst der Tod, in der mächtigen Gestalt von Kai Uwe Schöler aus einer kalt leuchtenden Tür der Unterwelt kommend, wird so eine „reale“ Figur. Helke Hasse stellt zwei Wachttürmen ähnliche Gerüste an die Seiten der Bühne und deutet durch geschickte Schatten die dunkel-bedrohliche Atmosphäre des Konzentrationslagers an. Sie gibt den Personen durch eine Phantasieausstattung durchaus menschliche Züge, auch wenn das Trommelmädchen Anke Sieloff zwischen Marschtrommler und Zirkustänzerin changiert. Mit sparsamem Lichteinsatz unterstreicht Andreas Gutzmeier den finsteren Charakter des Handlungsortes. Dirk Erdelkamp hat mit dem kleinen Projektorchester, in dem sich etwa zwanzig Musiker zum Jungen Ensemble in mehreren Wochen zusammenfinden, keine Mühe, die moderne, spannende Musik von Ullmann mit Energie und hoher Konzentration zu spielen. Die jungen Musiker, zwischen 12 und 23 Jahren, werden von einigen wenigen professionellen Musikern unterstützt. Ullsteins Komposition verzichtet auf die dunklen schweren Tonpassagen, die in vielen KZ-nahen Darstellungen zum phantasielosen Standard gehören, und nutzt alle Ausdrucksformen moderner, nuancenreicher Musik. Es klingen Phrasen aus Luthers Ein feste Burg an, aber auch Klänge aus dem Deutschlandlied oder Kurt Weills Musik.

Das Ensemble, mit sieben Personen überschaubar, gibt eine musikalisch wie darstellerisch geschlossene Leistung, es fällt schwer, einzelne herauszuheben. Claudius Muth, als schwarze Figur meist am Rande der Szene, gibt einen prägnanten, wohltönende Lautsprecher, der die Szene überblickt. Der Tod, der „augenblicklich eintreten“ kann, ist in der mächtigen Gestalt und der voluminösen Bassstimme von Kai Uwe Schöler real, aber doch zu jenseitig, als dass man ihn leicht fassen könnte. Kaiser Overall stellt Vasilios Manis als unsicheren Diktator mit menschlichen Zügen dar, der gern mit dem Tod ins Geschäft kommen möchte. Zwei Soldaten, von E.M. Murphy und Tina Stegemann gespielt, symbolisieren die Nähe zu Gewalt und Willkür. Der Trommler, anzüglich mit einem Trommelröckchen ausgestattet und von Anke Sieloff in buntem Outfit quirlig und mit hellem, manchmal schrillen Mezzosopran gespielt, setzt ihre Verlautbarungen über den Krieg in doppeldeutiges Zwielicht. William Saetre gibt mit leichter Tenorstimme der Figur des Harlekin eine spielerische Note, er sucht vergeblich nach noch lachenden Menschen.

Das sorgfältig gestaltete Programmheft bietet zahlreiche nützliche Zusatzinformationen und erlaubt die politische Einordnung der Oper. Das Publikum, unter ihnen viele Angehörige, Mitschüler und Lehrer, bedankt sich enthusiastisch für eine sehr konzentrierte, ein komplexes Thema aufgreifende Aufführung, in der dank eines konsequenten Regiekonzeptes schwierige Probleme skizziert werden und trotzdem selbst bei einem Blick auf die versuchte „Todesverweigerung“ eine ironisch-spielerische Distanz erhalten bleibt.

Und „Longlife-forte“? – Im Foyer stoßen die Besucher auf eine ungewöhnliche, frisch-bunte, aber auch dunkle Ausstellung, die von Kindern und Jugendlichen zusammengestellt wurde, die in letzter Zeit Mutter oder Vater oder einen nahen Verwandten durch Tod verloren haben. Unter dem Titel Der Tod dankt ab haben sie sich in einem Projekt der Lavia zur Trauerbegleitung mit Unterstützung von Theaterpädagogen mit dem Tod auseinandergesetzt. Sie gehen der Frage, der Vision nach, wie denn ein „Leben ohne Tod“ aussehen könnte und was es mit den Menschen machte. Einige ihrer völlig überraschenden, ungewöhnlichen Ideen und Ergebnisse präsentieren sie in der Ausstellung. In einer Textsammlung stellen sie ihre „Gedanken über die Möglichkeit unsterblich zu werden“ vor. Von der Einsicht „Zeit an sich gibt es nicht“ über die Formulierung, der Tod habe ihre Eltern „gestohlen“ bis zur „puren Lust auf ewiges Leben“ reichen ihre Einfälle. Der Satz einer 22-Jährigen: „Bevor ich ewig lebe, sterbe ich lieber.“ führt unmittelbar zurück zum Thema von Ullsteins Oper.

Ein thematisch, musikalisch und darstellerisch überzeugender, bewegender Theaterabend.

Horst Dichanz

 





Fotos: Pedro Malinowski