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Fakten zur Aufführung 

LA GRANDE MAGIA
(Manfred Trojahn)
24. März 2012
(Premiere)

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen


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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Wie sieht die Oper des 21. Jahrhunderts aus? Im Zeitalter der Postmoderne, in der künstlerisch alles erlaubt scheint, in der die Freiheit, keinem Epochenzwang zu unterliegen, ständig Gefahr läuft, langweilige Beliebigkeit zu produzieren, da es nichts mehr gibt, keine Dogmen, an denen man sich reiben könnte, überrascht Manfred Trojahn mit einem Werk – die Uraufführung hat 2008 in Dresden stattgefunden – in dem die Zeit stehen geblieben scheint. Der Komponist spart nicht mit Dissonanzen, doch streut er hier und da musikalische Phrasen ein, die entfernt an Wiener Klassik, Romantik, Impressionismus erinnern, musikgeschichtlich ist das Werk kaum greifbar. Auch die Handlung ist zeitlos und hat die Zeit – oder besser gesagt, den Umgang mit ihr – zum Thema. Basierend auf Eduardo de Filippos gleichnamigem Schauspiel zeichnet La Grande Magia das Bild einer Familie, die es nicht mehr nötig hat, die sich nur mit Mühe hinter ihrer bürgerlichen Fassade versteckt. Die di Speltas stehen vom ersten Moment mit heruntergelassenen Hosen auf der Bühne. Im Mittelpunkt der Spannungen stehen Calogero und seine Frau Marta. Sie erträgt die Zwänge des bürgerlichen Alltags nicht mehr, er lebt die Fassade, als sei es das richtige Leben. Der Auftritt des abgehalfterten Zauberkünstlers Otto Marvuglia, eine Figur, die wie ein aus den Edgar-Allan-Poe-Verfilmungen der späten 1960-er Jahre gefallener Vincent Price wirkt, hilft Marta beim Ausbruch aus der Bürgerlichkeit und vollendet die Katastrophe der in ihren Konventionen gefangenen Familie: Calogero, der nicht wahrhaben will, dass Marta während eines Zaubertricks ausgebüchst ist, verfällt dem Wahnsinn und glaubt, die Zeit sei stehen geblieben. Als Marta, nach mehreren Liebhabern und Selbstverwirklichung als Sängerin, nach quälend langen sieben Jahren zurückkehrt, hält Calogero an seinem Selbstbetrug fest. Er erträgt es nicht, sieben Jahre seines Lebens vergeudet zu haben – und die Familie mit ihm.

Gabriele Rech, die gut drei Jahre nach Die Herzogin von Chicago nach Gelsenkirchen zurückgekehrt ist, inszeniert La Grande Magia als psychologisches Kammerspiel. Was fangen wir mit unserer Zeit, mit unserem Leben an? Die Familie di Spelta verschwendet es an eine Existenz der Uneigentlichkeit. Die literarische Vorlage zu Manfred Trojahns Oper ist 1949 uraufgeführt worden, sechs Jahre, nachdem Jean-Paul Sartres philosophisches Hauptwerk Das Sein und das Nichts erschienen war und die Rezeption von Martin Heideggers Existenzphilosophie dadurch neue Impulse erfahren hatte. Der zweite Weltkrieg, Hitler und Mussolini liefern den historischen Kontext. Das Versagen der politischen und wirtschaftlichen Eliten Europas war offensichtlich geworden. Das macht La Grande Magia – angesichts des Versagens der Oberschicht vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise – hochaktuell. Die Bürgerlichen verharren in stereotypen Rollen, die sie so spielen, wie Sartre es in seiner existenzialistischen Analyse offengelegt hat. So wird der Beginn des fünften Bildes zum eigentlichen Höhepunkt der Inszenierung. Die Familie wiederholt dieselben, längst durchgespielten Rituale. Das Resultat ist der Verfall der bürgerlichen Klasse. Dies spiegelt auch das von Dieter Richter geschaffene Bühnenbild wieder, eine Fassade gewordene heile Welt des Wohlstands, durch den im Schlussbild der Rost durchschimmert. Die dezenten Kostüme von Renée Listerdahl fügen sich ebenfalls gut ein.

Das Ensemble zeigt sich durchweg in guter Form. Alfia Kamalova, die vor gut drei Jahren als Belinda in Dido und Aeneas ein erstes Ausrufezeichen in Gelsenkirchen gesetzt und sich seitdem bemerkenswert weiterentwickelt hat, scheint die Rolle der Marta wie auf den Leib geschrieben. Die Sopranistin meistert hohe Intervallsprünge problemlos und hält im Piano stets die Spannung. Darstellerisch wie gewohnt überzeugend, liefert die aus Estland stammende Sängerin eine ihrer besten Leistungen ab. Erst verdrießlich, eifersüchtig und spießig, dann in seiner eigenen, von Wahnvorstellungen gezeichneten Welt gefangen, verleiht Daniel Magdal Martas Ehemann Calogero durch überzeugendes Spiel die notwendige Glaubwürdigkeit. Im fünften Bild darf Magdal auch musikalisch die Bremse los- und seinen wunderbaren Belcanto-Tenor über die Bühne schweben lassen. Urban Malmberg, der diese Rolle bereits bei der Uraufführung 2008 verkörperte, gibt einen herrlich zwielichtigen Otto Marvuglia mit einem stets präsenten Bariton und sauberer Stimmführung. Auch die kleineren Partien sind gut besetzt. Alexandra Lubchansky stattet die kränkelnde Amelia mit einem kräftigen Sopran aus, der in den Höhen der Rolle entsprechend manchmal schrill wirkt, insgesamt von sauberer Stimmführung ist. Christa Platzer zeichnet Matilda di Spelta als verbitterte Patriarchin; auch der Rest der Familie spiegelt das Versagen des Bürgertums wunderbar wider: Piotr Prochera als Matildas renitenter Schwager Marcello, E. Mark Murphy als durch seine unmögliche Leidenschaft für seine Cousine Rosa alles um ihn herum vergessenden Gregorio, Sylvia Koke als nur um ihre Schönheit bedachte Rosa und Lars-Oliver Rühl als deren Ehemann Oreste, der seiner verpassten Chance als Politiker nachtrauert. Sejong Chang gibt den Mariano in seiner ganzen Großspurigkeit. Noriko Ogawa-Yatake als Zaira und William Saetre als Arturo ergänzen das Ensemble mit gekonnter Routine.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Manfred Trojahns Partitur, aus der, so scheint es, mal Anklänge an Strawinsky, mal an Richard Strauss herauszuhören sind, unter der Leitung von Lutz Rademacher facettenreich und mit gebotener Subtilität. Immerhin gilt es, das Kammerspiel auf der Bühne musikalisch zu kommentieren. Und das gelingt dem Orchester durchweg auf hohem Niveau. Dass einige Zuschauer dem weiteren Verlauf der Handlung nicht folgen wollen und ihre Plätze nach der Pause leer bleiben, überrascht, gilt doch das Gelsenkirchener Publikum gemeinhin als für unbekannte Klänge aufgeschlossen. Diejenigen, die bleiben, belohnen die gelungene Vorstellung mit viel Applaus.

Sascha Ruczinski