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Fakten zur Aufführung 

WERTHER
(Jules Massenet)
30. November 2013
(Premiere)

Aalto-Theater Essen


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Vom Erfrieren am Leben

Stehen wir vielleicht vor einer Massenet-Renaissance? Zumindest in der NRW-Bühnenlandschaft? Das Aalto Musiktheater zeigt gerade seine Sicht auf das lyrische Drama Werther. Gelsenkirchens Musiktheater im Revier bringt Anfang Dezember die heroische Komödie Don Quichotte heraus. Das Theater Bonn wagt sich im Mai an die lyrische Komödie Thaïs. Allemal lohnend wären neuerliche Begegnungen mit einigen der annähernd 30 Werke, die der Vollender der französischen Opernromantik im Übergang von der Grand Opéra zur Moderne geschaffen hat. Hérodiade zum Beispiel, Esclarmonde oder Cendrillon, vor und nach dem Welterfolg der Manon entstanden. Solche Bemühungen könnten 2017 kulminieren. Dann begeht die Opernwelt Jules Massenets 175. Todestag. Jedenfalls könnte sie es tun.

In Essen ist die Relevanz, die Regisseur Carlos Wagner und Bühnen- und Kostümbildner Frank Philipp Schlößmann dem Stoff nach Goethes frühem Bestseller von 1774 erweisen, in programmatische Dimensionen eingebettet. Intendant Hein Mulders hat seine erste Spielzeit im Aalto in die existenzielle Frage von „Schicksalszuweisung“ und „Schicksalsbestimmung“ gestellt. Die Kunst, das Musiktheater insbesondere, sieht er als Instanz, die Antworten zu geben und Reflexionen bis in unseren Alltag hinein anzustoßen vermag. Dieser Werther ist der berührende Stoff, aus dem die Kunst in ihren besten Momenten ihr Material zu gestalten pflegt. Während Lotte in Goethes Briefroman lediglich als Objekt der Obsessionen seines hochsensiblen Helden und Schwärmers agiert, rücken Massenets Librettisten Edouard Blau, Paul Milliet und Georges Hartmann die Tochter des Amtmanns in das Zentrum des Dramas. Avanciert vom „Lottchen“ zur Charlotte, ist sie es, die im Ur-Konflikt zwischen Wollen und Müssen, zwischen Begehren und Verzichten an Stärke gewinnt. Angesichts dieser Entwicklung wächst in der Wahrnehmung der Essener Inszenierung die Vorstellung, dass diese Charlotte fähig werden könnte, Schicksal zu bestimmen, statt bloß anzunehmen. Über vier Akte hinweg verharren die männlichen Protagonisten Werther und Albert hingegen in Stagnation. Antipoden und doch loser jeder für sich, der eine den physischen durch die Pistole, der andere den seelischen Tod durch Erfrierung aller Gefühle erleidend.

Für den aus Venezuela stammenden Wagner ist die Essener Inszenierung bereits die zweite Erarbeitung eines großen Opernwerks des 19. Jahrhunderts auf einer NRW-Bühne binnen kurzem. Vergleichbar seinem Konzept der Luisa Miller Giuseppe Verdis für die Rheinoper Düsseldorf und Duisburg, gilt sein Hauptinteresse dem Entwicklungsprozess, den die Frauen – Luisa dort, Charlotte hier – durchlaufen. Wie sie als „Engel der Pflicht“ im Werther Stadien der Nähe und der Distanz, des Aufbegehrens und des Sich-Fügens, von Aufschrei und Verstummen durchläuft, zeigt Wagner als großen Bogen und nicht minder großes Theater. Sie ist in seiner Inszenierung anscheinend als einzige zur humanen Verarbeitung des Erlebten, zur Schicksalsbestimmung, fähig. „Nous sommes fous …rentrons!“, warnt sie Werther am Ende des ersten Akts, als der naturverliebte Träumer ihr seine Gefühle offenbart. Der versteht nichts, während Wagner uns verstehen lässt, warum die Katastrophe unvermeidlich ist.

Apropos Natur: Kaum ein größerer Gegensatz ist denkbar zwischen der Natur als anarchischer Urzustand, wie ihn Werther zu leben trachtet, und der engen Zivilisation, wie sie sich in den Kleinstädten nach der Restauration vor und nach dem Wiener Kongress herausgebildet hat. Für den Antagonismus Gefühl und Norm, Obligo und Libido, hat Ausstatter Schlößmann ein plausibles und wunderbar wandlungsfähiges Bühnenbild gefunden. Aus hellem Holz gezimmert, beherrscht des Amtmanns und seiner beiden Töchter zweigeschossiges Zuhause – „meine kleine Einsiedelei“ – den vorderen Bühnenraum. Die zumeist hell ausgeleuchtete untere Etage fungiert als Schauplatz des dramatischen Geschehens. Sie ist drehbar und gibt so Raum, etwa der grünen Matte draußen, auf der Werther in seiner Leidenschaft aufgeht. Oder einem zersplitterten Baumstumpf, der mit Wucht in die Kleinbürger-Idylle einschlägt. Unter einer Schräge ist die zweite Etage angesiedelt, bedrohlich niedrig und zumeist im Dunkel. Hier ist der Rückzugsraum Charlottes, bewahrt sie Werthers Briefe auf, flieht sie die Enge bürgerlicher Repressionen. Diese pflegen sich unten immer dann besonders krass einzustellen, wenn die Saufkumpane des Amtmanns im Junker-Outfit in den Tag hineindämmern. Eine Treppe verbindet beide Orte. Ein dramaturgisch praktischer und schlüssiger Ort für Zögern und Verharren der Akteure, zum Zuhören und – zum Andeuten innerer Verfassungen. Es ist diese Treppe, auf der der Amtmann mit einer Geste seine Haltung andeutet, patriarchalische Auffassungen notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Musikalisch ist die Aufführung durchweg auf hohem Niveau. Die Essener Philharmoniker unter ihrem Dirigenten Sébastien Rouland spielen sich von Beginn an in Premierenstimmung und Empathie für die prachtvoll-innige Partitur. Als im ersten Vorspiel bei geschlossenem Vorhang – dafür übrigens wie für die Wiederholung dieses Augenblicks bei den drei weiteren Dank – die Solovioline mit zarten Pastelltönen in die Grundmelodik des „drame lyrique“, in die Melodik des Mondes, hineinschwebt, wird spürbar, dass und wie dieser Massenet gelingen wird. Besonders eindrucksvoll die Kontrabässe in der Sinfonie zu Beginn des vierten Aktes, die Todessehnsucht des Titelhelden und den seelischen Abriss Charlottes vorwegenehmend.

Ist Charlotte die Theaterfigur, so Abdellah Lasri in der Titelrolle die Opernstimme des Abends. Souverän in Höhe und Volumen, berührend in Ausdruck und Stimmfarbe, gibt der aus Marokko stammende Tenor, seit Beginn der Spielzeit Mitglied des Essener Ensembles, den jugendlichen Schwärmer sehr eng an der Dichter-Ikone, entflamm- und verwundbar in einem. Die Wiedergabe des Belcanto-Hits Pourquoi me réveiller… auf ein Poem des Dichters Ossian ist in der raffiniert durchkomponierten Partitur Massenets nichts Solitäres, sondern sozusagen ein Juwel unter anderen. Michaela Selinger besitzt einen hellen Mezzosopran, der alle Ausschläge – vom Piano der Verzehrung bis zum Forte der Verzweiflung – mühelos hervorbringt. Ihre Charlotte hat Format, einige große vokale Momente, so in der Briefszene des dritten Aufzugs, im Dialog mit Werther bei der ersten Begegnung, nicht zuletzt im Todesfinale in der Eiseskälte einer Weihnachtsnacht, die gefrieren macht. Einen vergnüglichen und partiell tröstlichen Kontrast bietet Christina Clark als ihre Schwester Sophie. Ihr sängerisches Highlight ungeachtet des bezirzenden Geschwister-Dialogs: das geradezu sanguinische Ah, le rire est beni…, ein Loblied auf die Segnungen des Lachens. Heiko Trinsinger als Charlottes Ehemann Albert und Tijl Faveyts in der Rolle des patriachalischen Amtmanns Le Bailli machen wie die übrigen weiteren Darsteller eine gute Figur zum traurigen Spiel.

Das Publikum zeigt mit Beifall bereits nach dem ersten Aufzug deutlich, dass es diesen Abend der Auslotung von Schicksalsbeziehungen goutiert. Es bestätigt das erst recht nach dem Schlussvorhang. Emphase für Lasri und Selinger, die Philharmoniker und ihren Dirigenten, starke Sympathien für das übrige Team bis hin zum Kinderchor.

Ralf Siepmann





Fotos: Matthias Jung