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Fakten zur Aufführung 

NIRGENDS ... WIRD WELT SEIN ALS INNEN
(John Neumeier)
17. Mai 2013
(Einmaliges Gastspiel )

Philharmonie Essen,
Alfried-Krupp-Saal


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Fest der Sinne

Der Alfried-Krupp-Saal in der Philharmonie Essen, Kathedrale der Klassik, ist gerappelt voll. Unter der Kuppel ist die Konzertbühne einer Tanzfläche gewichen, die bis auf einen Flügel leer ist. Erwartet wird das Hamburg Ballett von John Neumeier, das in diesem Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert und wohl längst zu einer der Legenden in der Welt des Tanzes auf dem gesamten Globus geworden ist. Da wird der Atem flach, ehe die Veranstaltung begonnen hat. Vier Choreografien stehen an diesem Abend auf dem Programm: Kinderszenen, Petruschka-Variationen, Vaslaw und die Uraufführung Um Mitternacht. Endlich wird es dunkel im Saal.

Christoph Eschenbach, begnadeter Pianist und Dirigent, betritt die Bühne und schreitet zum Klavier. Das Bühnenlicht, an diesem Abend ein gekonnter Wechsel aus Pastelltönen und einem kühlen Blau, nie aber auch nur einen Teil der Aktionsräume unterbelichtend, trägt eine Ballerina an den Flügel und lässt damit einen Abend beginnen, an dessen Ende du nur noch staunend mit offenem Mund da sitzt. Es fängt mit den Kinderszenen von Robert Schumann an, einer Choreografie aus 1974, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren hat. Eschenbach hat sie immer wieder für Neumeier gespielt und stellt gleich klar, was sich in den Jahren geändert hat. Wir haben Zeit. Entschleunigung ist Programm. Die Vollendung suchen sowohl Eschenbach als auch Neumeier in der Perfektion der Ausführung, nicht in der Geschwindigkeit. Tänzerinnen und Tänzer nehmen sich Zeit, ihre Figuren und Bewegungsabläufe bis zum Ende auszuführen. So entsteht eine völlig neue Faszination, die in Um Mitternacht ihren Höhepunkt erreicht. In den Kinderszenen hat Neumeier unschuldig-weiße Kostüme ausgewählt und vor allem auf das Team gesetzt. Hier steht ganz das klassische Ballett im Vordergrund.

Schon nach dieser Choreografie werden erste Bravo-Rufe im Saal hörbar, obwohl sich das Publikum ansonsten eher zurückhält. Auch als Christopher Park, Eschenbach-Schüler, sich an den Flügel setzt, bleibt es seltsam still. Er spielt Igor Strawinskys Trois Mouvements de Pétrouchka mit exzellenter Leichtigkeit für das Team des Bundesjugendballetts, ein Kind Neumeiers. In orangefarbenen Trikotagen zeigen die Jugendlichen im Alter von 18 bis 23 Jahren, wie erfrischend Ballett sein kann. Obwohl die Choreografie aus dem Jahr 1976 stammt, wirkt sie so unverbraucht, als sei sie von den Jugendlichen selbst entwickelt. Dabei erreicht das Corps eine Qualität, die mancherorts gern behauptet, aber selten erreicht wird.

Nach der Pause ist Eschenbach zurück am Flügel. Er spielt Musik von Johann Sebastian Bach für die Choreografie Vaslaw aus dem Jahr 1979. Vielleicht das raffinierteste Stück des Abends. Die Tänzerinnen und Tänzer variieren Elemente des Barocktanzes und kombinieren das mit dem Ausdruckstanz im Sinne einer Mary Wigman. Alexandre Riabko begeistert als Solist, wenn er für seine Ausdrucksstärke den ganzen Bühnenraum beansprucht. Auch hier: Riabko führt neben der Demonstration schneller Schritt- und Handlungsabfolgen Figuren in nahezu meditativer Konzentration aus, die mitunter mehr faszinieren als die parallel stattfindenden Ereignisse. Patricia Tichy nimmt die Rolle der „Naturtänzerin“ ein und wird später dafür besonders gefeiert werden. Ein Hauch von „damals“ durchweht den Saal. Es gelingt ihr, den Ausdruckstanz mit neuer Interpretation zu versehen, ohne die inzwischen etwas antiquierten Ideen zu vernachlässigen oder ad absurdum zu führen. So werden hier Gefühlsebenen angesprochen, die weitaus vielfältiger als in einer modernen Tanzaufführung mit einem riesigen theoretischen Überbau entstehen.

In der Uraufführung Um Mitternacht erreicht nicht nur der Abend seinen Höhepunkt, sondern zeigt Neumeier eigentlich den Stand der Entwicklung. Der Bariton Matthias Goerne tritt an den Flügel von Christoph Eschenbach und singt die Rückert-Lieder zur Musik von Gustav Mahler. Mit seinem dunklen Timbre erinnert Goerne eher an einen Bass. Er lässt sich auf die Tänzer ein, versucht, mit ihnen in Dialog zu treten. Vielleicht steht er zu tief im Raum, als dass man die Texte der Lieder alle einwandfrei verstehen könnte. Das gleicht er durch den balsamischen Klang seiner Stimme wieder aus. Edvin Revazov tanzt den Suchenden, zwischen den Frauen hin und her Irrenden, der sich manchmal seiner Weltentrückung hingibt. Bei aller Begeisterung für seinen Tanz will sich letzteres leider nicht wirklich einstellen. Aber vielleicht ist das bei einer solch kraftvoll tänzerischen Leistung auch nicht mehr möglich. Denn in dieser Choreografie kommt die kontemplative Konzentration auf Ausdruck und Ausführung der einzelnen Figur expressionistisch zum Tragen – und irgendwann sind einfach dem menschlichen Körper auch Grenzen auferlegt. Das kann allerdings die Wirkung des Abends nicht schmälern.

Das Publikum ist hin und weg. Ergeht sich in Bravo-Rufen. Erhebt sich von den Stühlen. Und applaudiert locker über 15 Minuten John Neumeier und seinen Mannen und Damen, den Pianisten und dem Sänger. Unterbrochen durch Johannes Bultmann, der als derzeit noch agierender Intendant der Philharmonie eine Geburtstagstorte an Neumeier überreicht. Damit ist das Vergnügen komplett, wenn der 70-jährige Chefchoreograf gerührt die Kerzen ausbläst. An diesem Abend hat die Philharmonie Essen ein Fest gefeiert. Und es hat allen gefallen.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Sven Lorenz