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Fakten zur Aufführung 

ARIODANTE
(Georg Friedrich Händel)
19. April 2014
(Premiere)

Aalto Theater Essen

Points of Honor                      

Musik

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Die Entzauberung der Ritterromantik

8. Januar 1735. Am Londoner Covent Garden Theatre erlebt Ariodante seine Uraufführung. Das Dramma per musica in tre atti ist eine von drei Opern Georg Friedrich Händels, die auf Erzählungen in Ludovico Ariosts Ritter-Epos Orlando furioso beruhen. Alcina sollte noch im selben Jahr folgen. Orlando war bereits 1733 herausgekommen. Im künstlerischen und vor allem geschäftlichen Leben des Opernunternehmers bringt das von der Premiere an gefeierte Stück noch einmal die Chance auf eine glänzende Perspektive. Gerade erst war ihm seine bisherige Spielstätte, das King's Theatre am Haymarket, gekündigt worden. Der Niedergang der Opera seria in den Jahren zuvor, schöpft Händel neue Hoffnung, scheint noch einmal aufzuhalten zu sein. Zumal sich ihm mit dem Theatre Royal in Covent Garden unverhofft ungeahnte neue Optionen eröffnen. Das Haus verfügt über eine größere Bühne sowie einen größeren Orchestergraben und beherbergt die Compagnie der berühmten französischen Tänzerin und Choreographin Maria Sallé. Das macht sich der findige Händel mit der erstmaligen Integration von Tanzsätzen in die Partitur von Ariodante sogleich zunutze. Zudem kann der Komponist bei der Besetzung erneut in die Vollen greifen. Seine „Zugpferde“, die Sopranistin Francesca Cuzzoni und insbesondere der Kastrat Senesino, sind zwar mit der Kündigung des King's Theatre zur Konkurrenz abgewandert. Doch sollen sich der Mezzosoprankastrat Giovanni Carestini als Ariodante und die Sopranistin Anna Maria Strada del Pó in der Rolle der Ginevra als überzeugende Alternativen erweisen.

Essen 19. April 2014. Den Protagonisten des Aalto-Musiktheaters kommen erst das Besetzungsglück und anschließend zwei Sängerinnen abhanden. Für Michaela Selinger übernimmt die junge Amerikanerin Tamara Gura die Titelpartie und gelangt so zu ihrem Debüt am Haus. Anders als in der Barock-Ära und in vielen Aufführungen seit der Wiederentdeckung des Werks im vergangenen Jahrhundert – etwa bei den Karlsruher Händel-Festspielen 2010/11 mit dem famosen Countertenor Franco Fagioli als Ariodante – setzen die Essener auf eine Mezzosopranistin. Für die mit der Rolle der Dalinda betraute und kurzfristig erkrankte Christina Clark springt in letzter Minute Katharina Bergrath ein. Die junge Sopranistin hat die Partie schon am Landestheater Salzburg einstudiert und absolviert. Um es gleich vorwegzunehmen: Beide Sängerinnen bestehen in der vokalen Performance und im Spiel ihre Bewährungsprobe mit Bravour. Schade nur, dass es vor Beginn der Aufführung zu den Umbesetzungen keine Ansage gibt, zumal Programmheft und eingelegte Handzettel nicht alle Fragen hierzu beantworten, das zum Zeitpunkt der österlichen Premiere wohl auch nicht können.

Händel schätzt um 1730, auf dem Höhepunkt des jahrelangen Auseinandersetzung um die Vorherrschaft in Londons höchst anspruchsvoller Opernszene, die damals äußerst populären Rittersagen Ariosts, weil sie ihm Stoff für eine Vielfalt an musikalischen Stilen und emotional getriebenen Handlungssträngen bieten. Das gilt zumal für sein Werk Ariodante, das sich im Nachhinein als Beginn einer gewissen Modernisierung der Opera seria und Vorwegnahme Glucks und Mozarts durch Öffnung der traditionellen Musiksprache deuten lässt. In der Tat ist das Libretto nach Antonio Salvi reich an Irrnissen und Irritationen, die sein Publikum heute nicht anders als das Londoner damals fordern. Das Ganze spielt in Schottland, wohin es den kühnen jungen Ritter Ariodante, aus Italien kommend, verschlägt. Am Hofe des Königs verliebt er sich in dessen Tochter Ginevra, worauf ihn dieser als Schwiegersohn und künftigen Thronfolger anerkennt. Doch der Erfüllung der zarten Liebesbande stellen sich gravierende Hindernisse entgegen. Polinesso, der heimlich von Ginevras Dienerin Dalinda geliebt wird, strebt selbst den Thron und eine zielführende Beziehung zur Tochter des Königs an. Er verstrickt seinen Rivalen in eine maliziöse Intrige, die erst durch den couragierten Einsatz Lurcanios offenbar wird. Der Bruder Ariodantes tötet den Rivalen im Schwerterkampf. Bestand und Integrität der Familie ganz im Sinne der ritterlichen Werte sind wieder hergestellt.

Keineswegs so bei Aalto-Debütant Jim Lucassen. Der Regisseur, der wie Essens Intendant Hein Mulders aus den Niederlanden stammt, siedelt seine Inszenierung im Verein mit dem Bühnen- und Kostümbildner Ben Baur in einem Milieu an, das vom Erscheinungsbild heutiger Manager und anderer Repräsentanten des Establishments, so der Bankenwelt, geprägt wird. Die Akteure bewegen sich in sparsam, häufig bloß mit Stühlen oder Stuhlreihen möblierten Räumen. Die Drehbühne und ein mit ihr rotierender überdimensionaler Raumteiler schaffen Szenarien der Weite und Kühle. Ihnen wohnt nichts von den Klischees der Ritterromantik samt Naturverklärung inne, die gleich mehrfach in Händels Musik existiert. Nein, Lucassens Bühnenpersonal agiert gegen diese Pseudo-Romantik, gegen die Stereotype vom hehren Rittersmann und innig-keuschen Burgfräulein. Hier sind vielmehr Leute am Werk, die wie Polinesso skrupellos ihrer Machtgier folgen, notfalls über Leichen gehen und die Folter als Methode der Durchsetzung ihrer Besitzansprüche einsetzen. Die Intrigen einfädeln, die sich jener bei Ariost beschriebenen mittelalterlichen Norm bedienen, der zufolge jede Frau in der bloßen Wahrnehmung durch die Gesellschaft ihre Ehre und ihr Recht auf Leben verwirkt, „hört man sie Buhle nennen, weil sie sich anderem gab als ihrem Mann“.

Lucassen zeigt einen gehörigen Spaß daran, diese Adelssippschaft ihre Beziehungen im Stadium ihrer Entwurzelung ausfechten zu lassen. Alles bei ihm ist auf Entzauberung aus. Die von der Aalto-Statisterie packend dargestellten Degenkämpfe vermitteln noch die Illusion vom ritterlichen Umgang miteinander, auch im Kampf. Es geht aber schaurig weiter und mit Folter- und Kerkerszenen bös zu Ende. Kein Finale der Tröstung. Ginevra wirft, als alles auf ein happy end hinzudeuten scheint, ihren Schleier weg und lässt ihren gerade angetrauten Gemahl ratlos allein. Nach einer glücklichen Beziehung sieht das nicht aus. Im Gegenteil: Vertrauen gibt es nicht, schon gar nicht grenzenlos, ist damals wie heute eine knappe Ressource. Wo Unterdrückung und Missbrauch walten, ist kein Staat zu machen, weder einst in Schottland noch wer weiß sonst noch.

Ob diese auf Brechung angelegte Sicht in Relation zur Musiksprache von Ariodante schlüssig ist, mag eine offene Frage bleiben. Das Publikum reagiert erkennbar distanziert. Freundlich, empathischer hingegen auf die Musik, ungeachtet des gestrichenen Chores. Die Essener Philharmoniker unter ihrem musikalischen Leiter und Barockexperten Matthew Halls gehen ihre Chance, nach Orlando, Semele und Hercules neuerlich Händel-Manie zu entfalten, mit Vehemenz und Kompetenz an. Dieser positive Gesamteindruck wird auch nicht von der bisweilen unzulänglichen Koordination des Orchesters mit den Sängern infrage gestellt. Spätestens mit dem ersten Duett Ginevras und Ariodantes Prendi di questa mano il pegno di mia fé hat Halls dynamisch-barocke Fahrt aufgenommen. Apropos Duette: Göttliche vier erlaubt Händel seinen Protagonisten, allein drei dem Paar der gelingenden, erst im Finale erodierenden Liebe. Der Komponist hat uns zwar auch mit Ariodantes Verzweifelungsarie Scherza infida im zweiten Akt einen Superlativ der Virtuosität geschenkt. Doch vermag Tamara Gura nicht jene stupende Betörung herzuzaubern, wie das nach historischen Zeugnissen Carestini in Covent Garden oder zuletzt Fagioli in Karlsruhe gelang. Vermutlich ist es dem Kastraten, heute dem Countertenor genrespezifisch vorbehalten, beim Publikum diesen eigentümlichen Sog entstehen zu lassen, diese irdische Entrückung, als bliebe gerade die Welt stehen.

Wie die Gura und Katharina Bergrath avanciert auch Olga Pasichnyk als Ginevra zu einer Gewinnerin des Abends. Der Gast mit reichlich Barockerfahrung an diversen europäischen Bühnen besticht nicht nur mit ihrem feurig-strahlenden Sopran. Wie sie uns die Partie der vom Schicksal scheinbar geliebten, letztlich aber isolierten Frau und Gefährtin mit Temperament und seelischem Glühen erfahren lässt, hat höchste dramatische Wirkung. In weiteren Partien sind Almas Svilpa als König und Ieva Prudnikovaite als Polinesso vorzügliche Besetzungen. Insbesondere die litauische Mezzosopranistin strahlt die diabolische Disposition des abgefeimten Intriganten überzeugend und mitreißend, also erschreckend aus. Michael Smallwood als Lurcanio und Albrecht Kludszuweit als Odoardo vervollständigen das insgesamt sich höchst beachtlich schlagende Händel-Personal.

Das Premierenpublikum zollt der musikalischen Gesamtleistung den verdienten, phasenweise – so bei Tamara Gura und Olga Pasichnyk – großen Applaus. Händel hat in Essen eine Heimstatt mehr gefunden. Also bitte mehr davon, mit großen Duetten und anderen Ensemblenummern und da, wo möglich, einem oder mehreren Countertenören.

Ralf Siepmann

 

Fotos: Bettina Stöß