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Fakten zur Aufführung 

SIMON BOCCANEGRA
(Giuseppe Verdi)
28. April 2013
(Premiere)

Theater Erfurt


Points of Honor                      

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Verzerrte Realität

Selbst für bekennende Opernfreunde dürfte Verdis Simon Boccanegra eine  Entdeckung sein. Sehr selten steht das Werk auf dem Spielplan deutscher Theater, vielen gilt es als nur schwer inszenierbar oder stimmlich adäquat besetzbar. Welches Haus verfügt schon über zwei außergewöhnliche Baritone und zudem zwei starke Bässe, die neben Sopran und Tenor das Geschehen dominieren? Das Werk ist fast wagnerisch durchkomponiert, es gibt nur wenige Arien und Rezitative, dafür aber viele Duette. Auch ist die Handlung düster und nur schwer zugänglich. Wer sich das erste Mal mit diesem Werk beschäftigt, muss die Inhaltsangabe mehrfach lesen, um den Zusammenhang zu verstehen. Bekannte Arien oder Chorszenen findet man nicht, dennoch ist diese Musik berührend und dramatisch zugleich. Umso bemerkenswerter ist das Experiment, dieses Werk im Rahmen einer halbszenischen Aufführung im Verdi-Jahr in Erfurt auf die Bühne zu bringen. Dieser Mut verlangt eine gehörige Portion Respekt.

Die Handlung ist auf den ersten Blick vertrackt. Simon Boccanegra, vom Volk Genuas zum Dogen ernannt, wird von Jacopo Fiesco, der in ihm den Verführer seiner Tochter Maria sieht, mit Hass verfolgt. – 25 Jahre später: Maria ist gestorben, das gemeinsame Kind aus der Beziehung mit Boccanegra wurde kurz nach der Geburt entführt und ist seither vermisst. Die junge Amelia Grimaldi soll mit Paolo, Kanzler des Dogen, verheiratet werden, liebt aber den Edelmann Gabriele Adorno. Als Boccanegra in Amelia seine eigene Tochter erkennt, verweigert er Paolo ihre Hand. Dieser sinnt auf Rache: Er überzeugt Gabriele, dass Boccanegra der Geliebte Amelias sei, der Boccanegra daraufhin vergiftet. Erst im Angesicht des Todes kann Boccanegra den Irrtum erklären, segnet das junge Paar und ernennt Gabriele zu seinem Nachfolger. In Pater Andrea erkennt er seinerseits Fiesco und eröffnet ihm, dass Amelia seine Enkelin sei – das Ende einer lebenslangen Todfeindschaft ist besiegelt.

Nach dem Fiasko der Urfassung des   Simon Boccanegra  1857 in Venedig nahm sich Giuseppe Verdi das Werk erst über zwanzig Jahre später erneut vor und unterzog es einer grundlegenden Bearbeitung. Als Librettist stand ihm dabei der Dichter und Komponist des   Mefistofele, Arrigo Boito, zur Seite, mit dem er zu dieser Zeit bereits am   Otello  arbeitete. Mit der von Verdi selbst akribisch vorbereiteten zweiten Premiere 1881 an der Mailänder Scala wurde Simon Boccanegra  dann endlich der große Erfolg.

Pamela Recinella hat dieses Werk halbszenisch für das Theater Erfurt arrangiert. In ihrer Interpretation des Simon Boccanegra zieht sie eine Parallele zwischen den lokalen und regionalen Ereignissen der mittelalterlichen Seerepublik Genua und der Ersten Republik Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg. Durch den Zeitsprung von 25 Jahren in dem Werk vergleicht sie die Situation mit den 1970-er zu den 1990-er Jahren in Italien, mit ihrem maroden und korrupten Politsystem unter Bettino Craxi. Das ganze wird garniert mit eingeblendetem Videomaterial dieser Zeit. Entsprechend sind die Kostüme und die wenigen Bühnenrequisiten von Norman Heinrich ausgestattet. Im Mittelpunkt ihrer Interpretation steht Simones Wahrnehmung einer verzerrten Realität, die ihn umgibt. Es ist eine Realität, die er nicht begreift, und mit der auch das Publikum so seine Schwierigkeiten hat. Es ist ein interessanter Ansatz, der jedoch das Publikum überfordert, denn ohne tiefergehende Kenntnisse der politischen Situation Italiens in dieser Zeit und ohne eine profunde Werkkenntnis sind manche Darstellungen nur schwer nachvollziehbar.

Dennoch schafft es Recinella, die einzelnen Charaktere wunderbar herauszuarbeiten und die Handlung ohne jegliche Übertreibung klar zu erzählen. Dazu braucht es auch keiner historisierenden Bilder. Die Psychologie der Figuren wird unterstützt durch Erscheinungen, Obsessionen und Erinnerungen aus der Vergangenheit. Als Amelia sich an ihre Kindheit erinnert, wandert symbolisch ein kleines Mädchen durch die erste Reihe im Zuschauerraum. Im Sterben erscheint Simon Boccanegra seine geliebte Maria als reale Frau, die ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Und es sind die drei Beziehungsebenen der Figuren untereinander, die dieses Werk charakterisieren. Simon und Fiesco, die Todfeinde; Simon und seine Tochter Amelia sowie Amelia und ihr Geliebter Adorno. Die Duette und Terzette untereinander sind die musikalischen Höhepunkte des Werkes. So gerät diese halbszenische Aufführung zu einem grandiosen Theaterabend, auch weil das Orchester auf der Bühne drapiert ist und die Zuschauer ohne trennenden Orchestergraben viel dichter und intensiver am Geschehen beteiligt sind.

Durch die halbszenische Inszenierung gelingt es den Solisten, ein intensives Rollenspiel abzuliefern, das ein Höchstmaß an sängerischer und schauspielerischer Qualität erfordert. Allen voran der junge Bariton Kartal Karagedik, der in Erfurt in der Titelpartie ein fulminantes Rollendebüt gibt. Karagedik gelingt es, die Figur des zerrissenen Dogen auch dank seiner Bühnenpräsenz mit großer Intensität zu füllen. Sein Boccanegra ist bei aller darstellerischen und stimmlichen Gewalt vor allem ein weicher Melancholiker, der seine größten und ergreifendsten Momente im Wiedererkennungsduett mit seiner Tochter Amelia und in der Sterbeszene hat. Karagediks Bariton verfügt über einen charakteristischen, dunkel metallisch schimmernden Kern. Der Boccanegra ist, sieht man von einzelnen dramatischen Momenten ab, in großen Teilen eine lyrische Partie. Und diese Partie bewältigt Karagedik mit einer nachhaltigen Innigkeit und Reife, die man einem jungen Burschen wie ihm noch gar nicht zutraut.

Ilia Papandreu als seine Tochter Amelia beeindruckt mit schon fast hochdramatischem Sopran und ausdrucksvollen Höhen, ohne das wärmende Timbre in den tiefen und lyrischen Passagen vermissen zu lassen. Richard Carluccis darstellerisch überzeugender Adorno findet dank melodiösen Tenortimbres an ihrer Seite im Laufe des Abends zu immer größerer Glaubhaftigkeit, auch wenn er in den Höhen bisweilen etwas angestrengt klingt. Vazgen Ghazaryan als Jacopo Fiesco setzt seinen durchdringenden, gewaltigen Bass als Widerpart zu Karagediks melancholischem Bariton ein; ihr Duett in der Schlussszene ist der absolute sängerische Höhepunkt des Abends.

Máté Sólyom-Nagy spielt den Paolo mit brutaler Verzweiflung und gewinnt seinem Bariton als intriganter Verräter die nötige Schwärze ab, und Dario Süß gibt den Pietro mit wuchtig markantem Bass und intrigantem Spiel.

Der Chor, gut einstudiert von Andreas Ketelhut, ist in den wenigen Chorszenen voll präsent. Samuel Bächli führt das Philharmonische Orchester Erfurt mit präzisem Schlag und sicherem Gespür für die Klippen dieses Werkes durch die Partitur. Das Orchester wirkt aufgrund seiner hervorgehobenen Anordnung auf der Vorbühne extrem konzentriert und diszipliniert und erzeugt dabei einen intensiven und mitreißenden Raumklang, wie man ihn selten hört.

Das Premierenpublikum nimmt das Werk zunächst mit verhaltenem, dann mit freundlichem Applaus auf. Vereinzelt gibt es einzelne Jubelrufe für Kartal Karagedik, für das Orchester und für Samuel Bächli. Doch das ist angesichts der herausragenden Leistung der Sänger, insbesondere von Karagedik, einfach zu wenig. Vielleicht war das Publikum überfordert von den Bildern. Wer sich von dieser musikalischen Darbietung nicht emotional mitreißen lässt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

Andreas H. Hölscher







Fotos: Lutz Edelhoff