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Fakten zur Aufführung 

ANATEVKA - FIDDLER ON THE ROOF
(Jerry Bock)
20. April 2013
(Premiere)

Theater Erfurt


Points of Honor                      

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Drei Hochzeiten und ein Exodus

Fast auf den Tag 70 Jahre ist es her: Am 19. April 1943 erheben sich die Juden im Warschauer Ghetto, um sich gegen die deutschen Besatzer zu wehren. Der Aufstand fordert 12.000 Todesopfer, 30.000 Menschen werden anschließend erschossen, 7.000 in Vernichtungslager deportiert. Nur wenigen Widerstandskämpfern gelingt die Flucht durch die Kanalisation. Am 16. Mai 1943 ist die größte jüdische Erhebung, die es im Zweiten Weltkrieg gab, niedergeschlagen. Ein „SS“-Führer schreibt in seinem Tagesbericht: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel in Warschau besteht nicht mehr.“

Vor diesem Hintergrund inszeniert der Chemnitzer Operndirektor Michael Heinicke das Erfolgsmusical Anatevka – Fiddler on the Roof von Jerry Bock und Joseph Stein im Großen Haus des Erfurter Theaters. In dem kleinen, ukrainischen Dorf Anatevka zu Beginn des 20. Jahrhunderts träumt der jüdische Milchbauer Tevje mit Frau Golde und seinen fünf Töchtern vom großen Geld. Was im ersten Akt mit großer Leichtigkeit und guter Laune beginnt, schlägt im zweiten Akt die Stimmung um: Russische Soldaten bedrohen die Dorfidylle, die mit der Ausweisung der Juden endgültig verloren ist. Heinicke gelingt der Wechsel von humorvoller Leichtigkeit zu traurigem Ernst ohne Peinlichkeiten. Anrührend der Exodus der Juden. Ausstatter Peter Sykora unterstützt die emotionale Handlung mit einer gebrochenen Puppenhaus-Atmosphäre und traditionellen Kostümen. Im Schlussakt sieht der Zuschauer ein Stück Eisenbahnschiene. Das assoziiert nicht nur den Exodus von 1905, an dem auch der Schriftsteller Scholem Alejchem teilnehmen musste, auf dessen Geschichte das Musical beruht.

Gleich die Ouvertüre Tradition zeigt eine beeindruckende Ensembleleistung. Aber auch die Einzelleistungen überzeugen weitgehend. Als Erzähler tritt Tevja, der Milchmann, souverän gelebt von Juri Batukov, häufig auf den Rundgang vor dem Orchestergraben, um dort dem Publikum nahe zu sein, ohne es direkt anzusprechen. Er hält Zwiesprache mit Gott und erklärt den Zuschauern so hintersinnig und humorvoll seine Welt zwischen Glauben, dem Streben nach Reichtum und Glück sowie der allgegenwärtigen Tradition. Markerschütternd sind seine Wutausbrüche, herrlich seine Freudensprünge. Sein warmherziger Bariton schleicht sich in die Herzen der Zuschauer, seine Wandlungsfähigkeit zeigt sich im zweiten Akt, wenn die Stimme auch schon mal hart und metallisch klingt.

Seine Frau Golde, überzeugend gespielt von Anja Augustin, hat das Herz zwar am rechten Fleck, glaubt aber nicht an die Heirat aus Liebe, sondern vertraut das Glück ihrer drei ältesten Töchter lieber der Heiratsvermittlerin an, die Maria-Elisabeth Wey verkörpert. Elisabeth Veit gibt eine widerspenstige Tochter Zeitel, die gar nicht daran denkt, den alten Metzger Lejser-Wolf – ausdrucksvoll hier Dario Süß – zu ehelichen, sondern nimmt lieber den jungen Schneider Motl Kamsoil, interpretiert von Jörg Rathmann. Daniela Gerstenmeyer schnappt sich als Tochter Hodel den Hauslehrer Pertschik, den Máté Sólyom-Nagy gibt. Und Katja Bildt als Tochter Chava schließlich verguckt sich in den Russen Fedja, der von Marwan Shamiyeh verkörpert wird. So sind die Rollen hervorragend besetzt, und die Darsteller erfüllen auf die zusätzlichen Anforderungen mit Bravour: Da wird mit Flaschen auf den Köpfen getanzt, jüdische und russische Tänze ebenso mit Leichtigkeit absolviert, wie es quasi nebenbei noch Salti.

Akrobatik gibt es an diesem Abend ausreichend. Besonders erwähnenswert hier der Einsatz der Erfurter Breakdance-Gruppe in der Choreografie von Mirko Mahr und Rudolf Hanisch.

Beeindruckend auch das Sabbat-Gebet, in dem Tewje mit dem Chor zu einer Einheit verschmilzt. Der Erfurter Chor in der Einstudierung von Andreas Ketelhut ist die zweite Säule dieser Aufführung. Gesanglich und darstellerisch leisten die Choristen Sehens- und Hörenswertes. In dem sehnsuchtsvollen Lied Anatevka schwingt die existenzielle Trägodie mit, der Abschied für immer. Der Chor macht den Verlust der Heimat emotional erlebbar.

Francesco Bottigliero führt das Philharmonische Orchester des Hauses opulent und voller Energie durch jüdische Volksweisen und imposante Broadway-Hymnen. Dabei gibt er der Solo-Violine von Fiddler Roland Rohde ausreichend Freiraum zur Entfaltung.

Das Publikum im ausverkauften Haus folgt dem Geschehen auf der Bühne aufmerksam, auch schon mal mit zustimmenden Bemerkungen und Szenenapplaus. Zum Ende applaudiert es stehend, und es breitet sich ein Gefühl der Gemeinsamkeit im Saal aus. Wann war Musiktheater beeindruckender?

Lawrissa Gawritschenko, Thomas Janda







Fotos: Lutz Edelhoff