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Fakten zur Aufführung 

FOLK.
(Romeo Castellucci)
26. August 2012
(Uraufführung am 25. August 2012)

Ruhrtriennale, Gebläsehalle Duisburg


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Sinnentleerte Rituale

Wenn die Besucher – sie sind nicht nur Zuschauer in dieser Aufführung – den „Aufführungsraum“ in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord über mehrere Treppen erreichen, läuft das Geschehen schon: das Ritual der Erwachsenentaufe, wie es bei Baptisten üblich ist. In voller Bekleidung werden Taufwillige von einem Täufer in einem großen, mit Wasser gefüllten Becken untergetaucht. Immer wieder stehen neue Taufwillige am Beckenrand, steigen ins Wasser, gehen zur Mitte des Beckens und werden getauft - wieder und wieder und wieder, fast bis zum Ende. Taufwillige und Täufer oder Täuferin gehen im Wasser aufeinander zu, umarmen sich zärtlich, der Täufling wird vorsichtig untergetaucht und nach der Taufe liebevoll verabschiedet - er oder sie gehen mit verklärtem Gesicht scheinbar selig lächelnd zum Rand - der nächste Täufling kommt, und doch bleiben alle anonym. Es fällt kein Wort, aus dem Off erklingt eine leise, ganz langsam anschwellende sphärische Musik.

Ein zunächst mildes Licht fällt durch drei große Fenster, langsam heller werdend, auf die Taufszene, dann beleuchten Strahler das Becken. Nach Dutzenden von Taufen hat ein älterer „Schauspieler“ Schwierigkeiten, macht Schwierigkeiten – ob bewusst oder fehlerhaft, bleibt unklar. Die Taufe findet nicht statt, die Routine des Rituals zerbricht. Der Täufer wird zornig, greift schließlich zu einem Messer und schlitzt mit groben Stichen die Gummiwand des Beckens auf - Wasser strömt in großem Schwall in den „Beobachterraum“ und erreicht Besucher und Statisten - die Dämme brechen. Der zornige Täufer wütet weiter am Taufbecken, so dass schließlich der gesamte Inhalt sich in den Besucherraum ergossen hat. Das Becken ist leer! Das Ritual der Taufe, gesellschaftliche Rituale generell haben ihren Sinn verloren, sind entleert. Die elektronische Musik, mal sphärisch unwirklich fliegend, mal donnernd bis zu den körperlich fühlbaren Bässen, mal den tiefsten Tönen einer Orgel nachempfunden, unterstreicht ein trostloses Bild. Die Gemeinschaft, zu Beginn durch ein Ritual verbunden, hat sich wortlos vereinzelt. Hinter den Fenstern zeigen sich Schattengestalten und begehren bei Donnerknall Einlass in hilflosen Bewegungen. Immer wieder verschwindet eine der Figuren ohne sichtbaren Anlass, fällt ohne Sinn nach hinten ins Bodenlose - spurlos.

Der Alte, vielleicht hat er seine Erinnerung verloren, kann sich nicht mehr an den Inhalt, den Sinn des Rituals erinnern. Er findet einen kleinen Tisch, setzt sich auf den Bürostuhl davor und beschäftigt sich – vielleicht ein Gedächtnisspiel – mit einem Figurenpuzzle, mit dem kleine Kinder geschult werden. Schließlich gibt er dieses Spiel auf, geht langsam vom Tisch weg zum Rand des zerstörten Beckens, zum Rand des Sinn entleerten Rituals und verschwindet. Schluss, Ende der „Aufführung“? Wie den Anfang markiert Castellucci auch den Schluss des Abends unklar, überlässt es den Besuchern zu entscheiden, ob für sie Schluss ist.

Unsicher kommt dünner Beifall auf, einige Besucher wenden sich von der Szene ab und streben erleichtert dem Ausgang zu. Andere verharren am Wasserrand oder schauen sich die zwei großen Gummiskulpturen an, in denen die Beckenreste, endgültig zerschnitten, in Ketten an zwei Kränen unter der Decke hängen, während im Hintergrund das Geräusch des abfließenden Wassers zu hören ist. Gespräche kommen kaum auf, einige Besucher bleiben offensichtlich in Gedanken versunken oder meditierend stehen - jeder findet seinen Schluss, muss ihn selbst finden.

Romeo Castellucci, der diese Performance geschaffen hat und die Musik von Scott Gibbons hinzufügte, gilt als Vertreter einer italienischen Avantgarde, deren Credo das „radikale“ Theater ist. Hiervon hat Castellucci eine markante Kostprobe hinterlassen. Welche Rolle dabei die in einem Foto des Programmheftes dokumentierte eigene Jordantaufe des Castellucci spielt, bleibt ebenso verschlüsselt wie die Beziehungen der Mitwirkenden zueinander, seien sie Zuschauer oder Akteure. Zeigen sie die „Möglichkeiten des Gemeinsam-Seins“?

Rituale sind Form gewordene, manchmal sinnhaft aufgeladene Handlungszyklen, die sich Menschen, Menschengruppen geformt haben. Castellucci sieht unsere Gesellschaft in einer Entwicklung, in der immer mehr Menschen immer weniger Rituale zu akzeptieren scheinen und sich von ihnen abwenden - kein optimistisches Zukunftsbild. Die Duisburger Gebläsehalle mit ihrer groben, rissigen Ästhetik bietet hierfür einen passenden Rahmen, den Castellucci überzeugend zu nutzen weiß.

Horst Dichanz

Fotos:
Wonge Bergmann/Ruhrtriennale 2012