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Fakten zur Aufführung 

BALLET REVOLUCIÓN
(Aaron Cash)
20. Februar 2013
(Premiere)

Theater Duisburg


Points of Honor                      

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Der Puls von Kuba

Ich liebe den Tanz, er ist die beste Methode, sich auszudrücken. Da, wo du mit Worten nicht mehr weiterkommst, wenn es darum geht, deine Gefühle auszudrücken, kannst du mit deinem Körper weitermachen, ihn bewegen, das ist ein Weg ohne Grenzen. Ich glaube, dass diese Art von Ausdruck über alle Sprachen hinweg funktioniert“, sagt Aaron Cash. Mit dem Ballet Revolución will der Choreograf den Beweis antreten. Mit achtzehn Tänzerinnen und Tänzern sowie einer achtköpfigen Live-Band hat der Kubaner eine Tanzaufführung entwickelt, die abseits folkloristischer Gefühlstänzeleien Grenzen überwinden und neue Formen schaffen soll. Eine Art Revolution. In Kuba wird immer noch viel über Revolution geredet. Die einen meinen das, was war, die anderen denken darüber nach, dass die beiden Castro-Brüder jenseits der 80 sind. Und die jungen Leute bereiten sich auf eine neue, aufregende Zeit vor. Dazu gehört in Kuba auch der Tanz. Der wird in allen Formen besonders gefördert. Hauptinstrument ist die Escuela Nacional de Arte (ENA), der auch die Escuela Nacional de Ballet (ENB) angegliedert ist. Die weltweit angesehenen Schulen bilden in allen Sparten des Tanzes aus. Und entsenden ihre Eleven in alle Welt. So sind auch die meisten Tänzer aus der Compagnie Cashs Absolventen von ENA und ENB. Damit ist die Frage der Qualität schon im Vorfeld der Aufführung geklärt.

Die Revolution auf der Bühne, so scheint es guter kubanischer Brauch, beginnt etwas zögerlich. Der Sound klingt dumpf, als käme er aus der Konserve. Die Bühne ist so schlecht ausgeleuchtet, dass man die Tänzer kaum erkennen kann. Und die Tänzer wirken in den ersten Bewegungen nervös und unsicher. Im Nachhinein wird man sich fragen, ob das schon zur Show gehörte. Was dazu gehört, ist die Lichtregie von Michael Buenen. Lange bleibt das Geschehen auf der Bühne im Dämmerlicht. In der zweiten Hälfte wird Buenen das ausgleichen, in dem er immer wieder Scheinwerfer in den Saal blitzen lässt. Das mag modern sein, eine Unart bleibt es trotzdem. Noch ohne verblitzte Augen können die Zuschauer sich allmählich in einen Sog aus Sinnlichkeit, Bewegungsrausch und Körperkult fallen lassen. Mit der zweiten Nummer – Cumbanchero – ist das Eis gebrochen. Cash sprengt alle Grenzen. Ballett, Hip-Hop, Breakdance, Capoeira und mitunter klassische Tanzelemente; alles ist erlaubt und findet in wunderbarer Choreografie harmonisch, dynamisch, voller Lebensfreude zusammen. Spannkraft ist der Name eines jeden Körpers, der auf der Bühne zu sehen ist. Die Tänzer springen einfach ein Stück höher und weiter, der Spagat geht ein bisschen schneller und selbstverständlicher, Akrobatik braucht hier keinen Anlauf. Beeindruckender noch als die muskelgestählten Körper ist allerdings die unmerkliche Steigerung der Dramatik. Idania La Villa Palenzuela trägt unermüdlich ihren Teil dazu bei. Sie gehört eindeutig zu den Stars des Abends, wenn man das noch unterscheiden kann. Spätestens nach Lola’s Mambo kann es eigentlich nicht mehr geben. Oder wenigstens nach Mas que nada. Von wegen.

Nach der Pause schraubt sich die Emotion nach oben. Gotan Project gilt in Tanzschulen als Inbegriff zeitgenössischen Tangos – und manch einer ist nach diesem Tango ausgestiegen, weil das nichts mehr mit romantisch verklärten Vorstellungen nostalgischer Tangoschritte zu tun hat. Die Compagnie von Aaron Cash traut sich Santa Maria und zeigt Tango, wie man ihn – bei aller Vorsicht vor Superlativen – noch nie gesehen hat. Sogleich schließt sich der nächste Höhepunkt an. In Concierto de Aranjuez wird das Tempo mutig reduziert, um frisches Verliebtsein in Vollendung der Situation kurz vor der Trennung eines Liebespaares gegenüberzustellen, „die Unentschlossenheit, das aneinander Herumzerren und sich Wegstoßen, der Moment, in dem man eigentlich weiß, dass man weiterziehen muss, aber doch noch verweilt, weil eben alles so vertraut ist“, sagt Cash. Zwei Paare auf zwei Stühlen, die abwechselnd in den Hot Spot geraten, schaffen unglaubliche Spannung. Hier gefällt einmal mehr besonders Jenny Sosa Martinez, die ihre klassische Ballettausbildung längst um eine Vielfalt im Tanz erweitert hat, die sie zu einer wahren Meisterin stilisiert, ohne dass sie sich deshalb in den Vordergrund drängen müsste. Aber Profis haben das ohnehin nicht nötig. Die 18 Profis auf der Bühne haben längst vergessen, dass sie irgendwann einmal einen Abend in einem Kostüm verbracht haben. Jorge Gonzalez hat für jeden Tänzer mindestens drei Kostüme vorgesehen – vom klassischen schwarz bis buntgemischt. Und farbenfroh interpretiert die Compagnie gleich nach der Elegie No Woman, no Cry. Endlich, nachdem die Kaskade sich rund anderthalb Stunden nach oben geschraubt hat, kommt er zu seinem Solo: Moisés León Noriega. Groß, schlaksig, durchtrainiert; da gibt es kein Gramm Fett, jeder Muskel ist einzeln identifizierbar. Auch er tanzt eine Mischung zwischen Ballett und zeitgenössischem Tanz, aber wen interessiert das? Er tanzt göttlich, weltentrückt. Seine Bewegungen sind der Inbegriff der Perfektion. Cash hat seinen Joker präsentiert, und er hat gewonnen. Die perfekte Applausordnung, die Zugaben, angesichts eines solchen Körpers in formvollendeter Bewegung: geschenkt.

Unter der musikalischen Leitung von Osmar Salazar Hernandez zeigt die Band sich spielfreudig. Luis Palacios Galvez legt ein hinreißendes Conga-Solo hin. Sängerin Kristin Hosein und Sänger Weston Foster tragen ihr Möglichstes dazu bei, die Lebensfreude auf der Bühne in der Musik widerzuspiegeln. Marcos Alonso Brito traut sich ein gelungenes Gitarrensolo auf der Bühne. Raynher Lasserie Echegoy am Schlagzeug und Carlos Gaytán Novoa an Piano und Keyboard geben den Input für den richtigen Rhythmus. Eindrucksvoll, wie die Band, die im hinteren Teil der Bühne hinter einem Gaze-Vorhang aufgebaut ist, auch bei völliger Verdunkelung spielt.

Aber: Was für ein Publikum! In seiner Alltagskleidung strömt es ins Theater, gut, ein paar Backfische haben sich wirklich aufgebrezelt. Brav sitzt es in den Polsterstühlen. Vereinzelt ein paar enthusiastische Rufe zwischendurch, wenn die Jugend einen Hit von J.Lo oder Shakira erkennt. Einmal gar klatschen die Zuschauer mit, das ist aber wohl mehr aus Versehen, hört auch gleich wieder auf. Das Lesbenpärchen aus Reihe drei wird hoffentlich bald eine gemeinsame Wohnung finden, damit es sich nicht länger für die Dauer einer gesamten Aufführung im Theater unterhalten und knutschen muss. Als sich das Publikum bei den Verbeugungen aus den Sesseln schält, sich eine Zugabe andeutet, mag man denken: Jetzt geht die Party los! Nein, nein. Ordentlich setzen die Leute sich wieder hin. Da bekommt man einen Augenblick lang Angst um die Vision Cashs, dass diese Art von Ausdruck über alle Sprachen hinweg funktioniere. Aber nein, selbst ein solches Publikum kann dir die Begeisterung an diesem Erlebnis nicht nehmen. Und bis zum 3. März 2013 gibt es ja für andere Publika auch durchaus noch Gelegenheit, eine richtige Party zu feiern.

Michael S. Zerban