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Fakten zur Aufführung 

STOP WATCHING!
(Silke Z./resistdance)
16. Mai 2013
(Premiere)

Tanzhaus NRW


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Der Booster bist du selbst

Der Frust ist allgegenwärtig: Die Überreglementierung nimmt kein Ende, die Selbstbestimmtheit des Menschen geht verloren – und das alles unter dem Deckmäntelchen größtmöglicher Sicherheit und Gesundheitsvorsorge. Der Einzelne kann sich nicht einmal wehren, weil der Minister vom Fahrrad gefallen ist und also Fahrradhelme notwendig sind, Rauchen ist ungesund und gehört damit verboten, und eine „wichtige soziale Lücke“ wird geschlossen, indem die Krankenversicherung auch den letzten noch in die Zwangsmitgliedschaft nimmt. Daily soaps, Game shows und eine dramatische Bagatellisierung der öffentlich-rechtlichen Medien sorgen dafür, dass unser Denken durch Pseudo-Emotionalität ersetzt wird. Information wird durch Markenbotschaften verdrängt. All das entlässt die Bürgerinnen und Bürger nicht etwa in eine sorglose Vergnügungsgesellschaft, sondern beschwört zunehmend eine tiefe, innere Unzufriedenheit und bohrende Ängste herauf. Geschichte und Literatur zeigen, dass es noch nie funktioniert hat, wenn einige wenige behaupten, für das Wohl der Gemeinschaft zu sorgen – und eigentlich gibt es kein aktuelleres Buch als Animal Farm von George Orwell. Eigentlich ist es nicht der Tanz auf dem Vulkan, den die Finanzwelt vollführt und damit die Anfälligkeit eines maroden Systems beweist, sondern die Selbstherrlichkeit der herrschenden Gruppe, die uns in Erinnerung an die Orwellsche Lektüre Angst und Bange werden lässt. Wie man mit solchen Erkenntnissen künstlerisch umgeht, hat sich die Choreografin Silke Z. gefragt und dazu die Tanz-Film-Produktion STOP watching! in Koproduktion mit dem Tanzhaus NRW in Düsseldorf und der Dansverkstaeđiđ Reykjavik Dance Atelier entwickelt.

Anhand einer Game show lässt die Choreografin die fünf Protagonisten auf der Bühne die Gegenwart erleben und kontrapunktiert mit einer filmischen Naturlandschaft, durch die sich die Tänzerinnen und Tänzer auf Leinwänden bewegen. Dazwischen werden ähnlich eines Refrains in einem Lied Revue-Elemente eingebaut, deren Komik oft ein wenig gewollt und eigentlich angesichts des Themas nur insofern zu verstehen ist, als sie zur Selbstbestimmtheit in der Gegenwart bewegen wollen. Das versucht auch eine der Tänzerinnen mit Ansprachen an das Publikum. Wie immer funktioniert es auch hier nicht so recht – die Interaktion der Bühne mit dem Publikum findet auf einer anderen Ebene statt. Und so bleibt auch der Lösungsvorschlag der Silke Z. auf die von ihr aufgeworfenen Fragen eher unbefriedigend. Mit Hilfe eines Boosters, eines rotes Warnknopfes, dessen Inanspruchnahme ein akustisches Signal auslöst, gelangen einerseits die Spielkandidaten in die nächste Runde, kommen die Menschen andererseits im Film in eine andere Welt, eine unberührte Natur, in der sie sich frei bewegen können. Genau das ist aber doch die zu beantwortende Frage: Wo ist der Booster?

Auf der spartanischen Bühne von Ansgar Kluge, der auch für ein ansprechendes Lichtdesign sorgt, ist er auf einer hüfthohen weißen Säule angebracht, die mittig vor der ersten Zuschauerreihe steht. Im Hintergrund sind vier Leinwände, jeweils zwei hoch- und querformatig, aufgebaut, die sich in der Position verändern lassen und den hochprofessionellen Videoprojektionen von Dominik Siebel und André Zimmermann Raum geben. Die Seitenvorhänge werden früh beiseite gezogen und geben den Blick auf die Seitenbühne frei. Wozu, erschließt sich nicht so recht. Die Kostüme, wohl in Zusammenarbeit des Teams entstanden, wechseln von Alltagsbekleidung zu Revuekostümen bis zur Freizeitbekleidung und wieder zurück, immer aber passend zur Situation und den Tänzern.

Caroline Simon übernimmt nicht nur die Rolle der komischen Tänzerin, sondern auch die der Moderatorin. Das gelingt ihr überzeugend und kurzweilig. Lisa Kirsch versucht sich im expressiven Ausdruckstanz, der allerdings eher selten einen direkten Bezug zum Stück erkennen lässt. Trotzdem gefallen ihr Stil und Ausdruck. Snædis Lilja Ingadóttir spielt die Verliererin, die Außenseiterrolle. Ihr großer Einsatz findet im Finale statt, wenn es italienisch wird. Francesco Pedone und Antonio Cabrita überragen in ihren verschiedenen Rollen und begeistern vor allem als Revue-Tanzpaar. Auch Cabrita läuft im Finale zur Höchstform auf. Es ist ein Finale, das in der Lautstärke und Lebenslust alles Bisherige übertrifft. Mit dem Song 50mila von Nina Zilli – 50.000 Tränen, die für die verloren gegangene Liebe nicht reichen – liefern Tänzerinnen und Tänzer ein finale furioso, das die Zuschauer in heitere Abschiedsstimmung versetzt, aber eigentlich über die eigentliche Frage des Stücks hinwegtäuscht. Und so bleibt neben der Freude, dass Tanztheater sich politisch aktuell und kommunikativ gibt, die Enttäuschung darüber, dass hier ein Stück wieder mal nicht zu Ende gedacht wurde oder das Ende dem Zuschauer nicht überzeugend vermittelt werden konnte.

Das Publikum im gut besetzten Saal ficht das nicht an. Langanhaltender Beifall für die Tänzerinnen und Tänzer, aber auch für die Künstlerische Leitung beendet einen abwechslungsreichen Abend, der letztlich mehr mit dem Charisma der Akteure als mit einer Botschaft überzeugen kann.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Meyer Originals