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Fakten zur Aufführung 

SEHNSUCHTMEER
(Helmut Oehring)
8. März 2013
(Uraufführung)

Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf

Points of Honor                      

Musik

Gesang

Regie

Bühne

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Vor der Premiere


Claus Guth und Helmut Oehring berichten im Vorfeld von der Improvisationslust und dem Willen zum Erfolg (7'03).

 

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Poetischer Klangrausch

Ich sterbe an den unheimlichen Ängsten und grauenhaften Süßigkeiten unserer Zeit. Wenn ich des Abends mich auskleide und zu Bette lege und die Beine lang ausstrecke und mich bedecke mit den weißen Laken: dann schaudere ich manchmal unwillkürlich, und mir kommt in den Sinn, ich sei eine Leiche und begrübe mich selbst. Dann schließe ich aber hastig die Augen, um diesem schauerlichen Gedanken zu entrinnen, um mich zu retten in das Land der Träume. Wem Rudolf Kowalski das mal gesagt hat, der wird es wohl kaum mehr vergessen. Vor dem entspinnt sich der Film des unglücklich Verlassenen, des zutiefst Unglücklichen, desjenigen, der seine Liebe verloren hat. Wozu nach solchen Momenten der zutiefst empfundenen Liebe noch einmal den Handlungsfaden aufnehmen? Hat es überhaupt noch eine Handlung gegeben – in und nach diesem Rausch von Poesie und Liebe? Und ist und war das wichtig? Es mag eine ganze Menge Leute geben, die in SehnSuchtMEER danach suchen werden; sie werden nach den Parallelen zu Wagners Holländer ebenso schauen wie nach den Ähnlichkeiten in Hans Christian Andersens Kleiner Meerjungfrau. Und sie werden irgendwann feststellen: Sie haben nichts verstanden. Komponist Helmut Oehring und seine Librettistin Stefanie Wördemann haben keine Handlung mit zahlreichen Zitationen geschrieben, sondern Poesie und Klangrausch geschaffen. Erbarmungslos bauen die Künstler Intensität und Spannung auf, überlisten die Zitate, indem sie ihnen neues Leben einhauchen, und zerbrechen jeden Handlungsansatz, um ihr Publikum in eine andere Welt zu entführen.

Da will das Konzept nicht so recht hineinpassen, das Geschehen mit der industriellen Revolution in Wuppertal-Barmen zu verknüpfen. Während der Chor so vor sich hinsingt, wie er spinnt und spinnt, stempelt er Formulare und stellt Telefonverbindungen her. Regisseur Claus Guth verbucht das unter künstlerischer Freiheit und glänzt stattdessen mit minuziöser Personenführung. Das ist au point. Christian Schmidt hat auf Basis der inszenatorischen Idee als Bühnenbild eine Industriekathedrale jener Zeit entwickelt und die Kostüme dieser Zeit angepasst. Ins rechte Licht setzt Bernd Purkrabek die Szenerien. Kein ganz so glückliches Händchen hat Torsten Ottersberg mit seinem Ton. Die elektronisch verstärkten Stimmen wollen und wollen einfach nicht den rechten Ort finden. Das ist schade, erreichen doch die sonstigen Sound-Effekte ein hohes Maß an Perfektion. Dass die Ereignisse sich überwiegend am Strand, auf und im Meer abspielen, hat hier niemanden besonders interessiert. So entstehen Parallelwelten, die nur deshalb funktionieren, weil SehnSuchtMEER vermutlich in jeder Umgebung funktionieren würde.

Parallelwelten gibt es auch im Ensemble. Oehring hat fast alle Rollen doppelt besetzt, um Innen- und Außenwelten zu verdeutlichen. Den Erzähler 1, den er Träumer nennt, spielt und singt David Moss schlicht großartig. Die Stimmakrobatik, die Moss betreibt, kann nur gesundheitsgefährdend für den Solisten sein. Das bekümmert ihn nicht. Er gibt alles. Assoziiert seinen Gesang mit der Sprache von Gehörlosen, und das gelingt ihm brillant. Rudolf Kowalski stellt als Erzähler 2 den Realisten dar. Menschen, die ihn schon als großen Filmschauspieler für sein differenziertes Spiel verehren, sind enttäuscht, was ihnen bisher entgangen ist. Kowalski findet eine neue, spannende, aber unaufgeregte Diktion. Das geht mit einer Leichtigkeit unter die Haut, dass man für Momente Oper vergisst und nur noch diesem Menschen zuhören möchte. Ebenso beeindruckend Jutta Wachowiak, die als Erzählerin im Stil der Großmutter agiert. Und das waren nur die Sprechstimmen. Simon Neal singt einen fulminanten „Holländer“: Sein Bariton ist fein nuanciert, angenehm zu hören und bis zuletzt verständlich. Erst im Duett mit Manuela Uhl offenbart er, dass sein Volumen Grenzen hat. Uhl spielt und singt die „Senta“. Wie will man eine Stimme beurteilen, deren Anlage man nicht kennt? Trotzdem Uhl in der Höhe häufig etwas spitz klingt – eben: möglicherweise ist das so gewollt – strömt ihr Sopran mit ungeheurer Klarheit und Souveränität. Einfach nur schön. Christina Schönfeld als gehörlose Gebärdensprachsolistin und Alter ego der Senta ist für den Laien in Sachen Gehörlosigkeit nicht so recht einzuordnen. Ihre Gebärden werden streckenweise im Übertitel übersetzt, was aber über die Ausführung gar nichts aussagt. Ausstrahlung hat sie allemal. Wenn sie singt, hat Oehring das haargenau auf sie zugeschnitten, so dass nicht mal im Ansatz Fragen nach einer etwaigen Behinderung auftauchen: Sie singt wunderbar. Eine besondere Rolle nimmt Matthias Bauer als Alter ego des Holländers ein. Mit seinen Kontrabass-Soli passt er perfekt in die Musik des Abends. Im ersten Auftritt bleibt sein Gesang leider noch unverständlich, weil die Übertitel fehlen; dann wird es eindrucksvoll. Sowohl in der Darstellung, in der Beherrschung seines Instruments als auch im Gesang.

Gesanglich leistet auch der Chor der Deutschen Oper am Rhein Außerordentliches. In der bewährten Einstudierung von Gerhard Michalski können die Choristen sich auch darstellerisch einbringen – und das unter Anforderungen, die über das übliche Maß hinaus gehen. Und das Normalmaß bewegt sich ja ohnehin schon auf recht hohem Niveau.

Ganz weit oben bewegen sich auch die Düsseldorfer Symphoniker, die Axel Kober vehement und mit großer Geste durch den Abend leitet. Mit Routine tut sich Kober schwer. Bei besonderen Anforderungen wächst er aber immer wieder über sich selbst hinaus. Da hat er jeden Sänger, jede Sängerin im Blick, findet exakt die Balance zwischen Orchester und Solisten. Ob Kontrabass auf der Bühne oder E-Gitarre auf der Seitenbühne - nichts und niemand entgeht ihm. Und nur so kann es ihm gelingen, die anspruchsvolle Komposition mit all ihren Feinheiten darzustellen.

Im annähernd gefüllten Saal herrscht merkliche Anspannung. Wie geht ein Oehring mit Wagner um? Erst nach der Pause, in der etliche Gäste die Aufführung verlassen, lässt sich das Publikum wirklich auf die Inszenierung ein. Als der letzte Vorhang fällt, ertönen Bravi-Rufe über dem aufbrandenden Applaus; vereinzelt erhebt sich das Düsseldorfer Publikum. Als Helmut Oehring und Stefanie Wördemann auftreten, gibt es heftigen Beifall. Der Komponist präsentiert sich in Jeans und Kaugummi kauend. Lieber Helmut Oehring: War das nach einer so überzeugenden Aufführung nötig? Hätte eine Verbeugung wirklich weh getan? Diese Uraufführung war ein grandioser Erfolg – trotz inszenatorischer Fragwürdigkeiten – da bedeutet die Schnoddrigkeit des ansonsten so charismatischen und sympathischen Komponisten gar nichts. Ein Berliner eben.

Michael S. Zerban

 





Fotos: Monika Rittershaus