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Fakten zur Aufführung 

RE:ZEITUNG
(Anne Teresa De Keersmaeker)
21. September 2013
(Uraufführung)

Tanzhaus NRW


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Abbild einer Probe

Im großen Saal des Tanzhauses NRW herrscht gähnende Leere: Die schwarzen Vorhänge sind zurückgezogen oder entfernt, die blanken Betonziegelwände sind zu sehen, ein Flügel steht auf der ansonsten leeren Bühnenfläche, von zwei Scheinwerfern von oben beleuchtet; seitlich auf dem Boden angebrachte Scheinwerfer, die so etwas wie Putzlicht herstellen. Ein paar Lautsprecherboxen runden das Interieur ab. Verantwortlich für die Kargheit des Lichts ist Joris De Bolle. Schon ist zu ahnen, was der Abend bringen wird: Minimalismus pur. Zwischen den Scheinwerfern stehen zu beiden Seiten jeweils drei Tänzer, bekleidet mit einer Art Probenkleidung. Die mit Jeans und T-Shirt gehen ja noch, aber ob es wirklich Oberbilker Ballonseide mit den drei weißen Streifen auf der Hose sein muss, mag dahingestellt sein.

Dargestellt wird also die klassische Probensituation. Das Konzept stammt von Anne Teresa De Keersmaeker und Alain Franco. De Keersmaeker zählt seit den 1980-er Jahren zu den „zentralen Figuren des zeitgenössischen Tanzes“. Alain Franco ist Pianist, Dirigent und Musikwissenschaftler, konzentriert sich in den letzten Jahren zunehmend auf die Zusammenarbeit mit bekannten Choreografen wie Meg Stuart oder eben De Keersmaeker. Auf der Basis eines Klavierkonzerts, das Auszüge aus dem Wohltemperierten Klavier von Johannes Sebastian Bach mit Werken von Arnold Schönberg und Anton Webern verband, entstand das Stück Zeitung im Jahr 2008. Vier Jahre später entwickelten Choreografin und Pianist das Konzept zu Zeitung/Fragments weiter. Nun wird in Düsseldorf Re:Zeitung uraufgeführt. Franco hat die live gespielte Klaviermusik um Einspielungen erweitert. Das geht sehr eingängig mit Lotte Lenyas It was never you und The Unanswered Question von Charles Ives los, um furios mit dem Perpetuum Mobile der Einstürzenden Neubauten zu enden. Dazwischen gibt es Webern, Bach und Schönberg, teils live von Alain Franco auf dem Flügel präsentiert, teils in von ihm selbst arrangierten Aufnahmen eingespielt.

Das musikalische Programm des Abends ficht die Tänzer – Louis Combeaud, José Paulo Dos Santos, Youness Khoukou, Ronan Martins de Oliveira, Radouan Mriziga und Mohamed Toukabri – wenig an. Für jemanden, der das Geschehen einer Probe nicht kennt, entstehen nun spannende Situationen. Da tasten sich die Solisten erst einmal an die eigenen Rollen heran, wiederholen, brechen ab, versuchen neue Bewegungsabläufe, ehe sie sich an ihren Partner heranwagen, wieder auseinander driften, um ihre Bewegungsräume zu vermessen und dann in neuen Konstellationen hoffentlich zu einem Ergebnis zu finden. Dass dabei die Musik zunächst eine untergeordnete Rolle spielt, Berührungen mit ihr eher zufällig geschehen, ehe die Tänzer Dynamik und Rhythmus übernehmen, sie verinnerlichen und zu einer Symbiose mit ihr finden, gehört ebenso zum Geschehen wie das Erfolgserlebnis in der Gruppe. Das führt dazu, dass Energien freigesetzt werden, wie man es nur selten selbst erlebt. Bei Perpetuum Mobile darf das Publikum bestaunen, wie die Tänzer nach rund einer Stunde über sich selbst hinauswachsen, die Gruppendynamik alles bisher Gesehene in den Schatten stellt und die Tänzer sich momentelang ganz auf die Musik einlassen. Das ist sicher der größte Moment des Abends.

Die Tänzer präsentieren sich in Höchstform. Sie sind Mitglieder der P.A.R.T.S.Foundation. Keersmaeker hat mit dieser Institution eine professionelle Plattform geschaffen, auf der sich die Absolventen ihrer Schule beweisen können. Und mit dieser Uraufführung zeigen sie ihre tänzerischen Fähigkeiten, auch wenn es dem einen oder anderen durchaus noch ein wenig an Ausstrahlung mangelt. Aber das steht ihnen ja auch zu. Die Schwäche liegt eher im Konzept. Es hat durchaus seine Gründe, warum Proben üblicherweise hinter verschlossenen Türen stattfinden.

Das Publikum im Tanzhaus lässt sich gern entzaubern. Und ist begeistert. Wovon? Vom Nimbus De Keersmaekers? Oder davon, einmal einen Probenbetrieb miterlebt zu haben? Es bleibt die Antwort schuldig und applaudiert stattdessen mit Bravo-Rufen im ausverkauften Großen Saal. Außergewöhnlich gut besucht ist auch die Gesprächsrunde mit den Tänzern und Alain Franco im Anschluss der Aufführung. Wenn das kein guter Start ist.

Michael S. Zerban

 

Fotos: Bart Grietens