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Fakten zur Aufführung 

LA JUIVE
(Fromental Halévy)
12. Mai 2013
(Premiere)

Semperoper Dresden


Points of Honor                      

Musik

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Verhängnisvolle Glaubensfragen

Wie geht die deutsche Theaterlandschaft heute mit der Thematik Antisemitismus, Judenverfolgung und Glaubenskrieg um? Kann diese Thematik sensibel und ohne stereotype Darstellung von Hakenkreuzen und SA-Uniformen überhaupt auf die Bühne gebracht werden? Lässt das Thema vielleicht sogar komische Elemente zu? Schwer vorstellbar, wie der jüngste Theaterskandal in Düsseldorf zeigt. Und es geht doch! Dazu bedarf es zunächst eines Werkes, das die Thematik radikal anspricht. Es bedarf eines sensibel agierenden Regieteams, und es bedarf vor allem großartiger Sängerdarsteller, die sich bis zur Selbstaufgabe emotional und gesanglich in ihre Rollen einleben. Wenn das alles zusammen kommt, dann entsteht ganz großes Musiktheater. So geschehen in Dresden an der Semperoper.

Ganz bewusst kurz vor den großen Feierlichkeiten zu Wagners 200. Geburtstag bringt die Semperoper Dresden das Werk La Juive – Die Jüdin des französischen und jüdischen Komponisten Fromental Halévy auf die Bühne. Das Werk, 1835 in Paris mit großem Erfolg uraufgeführt, setzte in seiner musikalischen Gestaltung Maßstäbe, die die großen Komponisten Wagner, Liszt und Verdi nachhaltig prägen sollte. Aber auch Bizet, Gounod und Saint-Saens als seine Schüler am Pariser Konservatorium führten seinen Stil in ihren Werken fort. In seinem Aufsatz Halévy und die französische Oper lobte Richard Wagner voller Enthusiasmus die Vielfältigkeit und Wahrhaftigkeit dieser Musik, die aus den innersten, gewaltigsten Tiefen der reichsten menschlichen Natur drängt. Hier schließt sich der Kreis zu Wagner, dem ja zeitlebens ein latenter Antisemitismus nachgesagt wird. 2008 hat das Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito dieses heute fast vergessene Stück an der Stuttgarter Oper inszeniert und nun fünf Jahre später diese Inszenierung nach Dresden geholt, mit den beiden Hauptdarstellern, die schon in Stuttgart begeistert haben.

Halévys La Juive stellt auf radikale Weise die Frage nach unterdrückten religiösen Minderheiten und fundamentalistischen Glaubenskämpfen und ist damit zeitlos aktuell. Historischer Kontext ist der Vorabend des Konstanzer Konzils von 1414, das die Christen einigen soll. Der jüdische Goldschmied Eléazar und seine Tochter Rachel erfahren immer wieder Anfeindungen. Die Situation eskaliert, als bekannt wird, dass Rachels Geliebter nicht, wie er selbst behauptet hat, ein Jude namens Samuel zu sein, sondern in Wirklichkeit der mit der Prinzessin Eudoxie verheiratete katholische Fürst Léopold ist. Auf Beziehungen zwischen Juden und Christen steht zu dieser Zeit der Tod. Die betrogene Rachel klagt sich selbst und ihren Geliebten an und wird gemeinsam mit ihrem Vater Eléazar verurteilt, und es wird dem aufgepeitschten Volksmund, dass den Tod der Juden fordert, nachgegeben. Eléazar, von tiefem Hass auf die Christen verblendet, ist nur noch getrieben von Rachegedanken, weil Christen einst seine Söhne getötet hatten. Dazwischen steht Kardinal de Brogni, der Eléazar einst aus Rom verbannt hatte, und dessen eigene Frau und Tochter in einem Feuer ums Leben kamen. Erst im Moment von Rachels Tod offenbart Eléazar Brogni, dass Rachel seine totgeglaubte Tochter ist, die der Jude einst rettete und aufzog.

Jossi Wieler und Sergio Morabito gehen mit der Thematik Antisemitismus, Judenverfolgung, aber auch Hass auf Christen recht offen um. Das Stück spielt mit diesen Klischees und führt sie zugleich ad absurdum. Wieler selbst stammt aus einer jüdischen Familie aus Konstanz, hat sozusagen einen biografischen Bezug zu dem Werk. Vielleicht erleichtert gerade dieser Hintergrund und die Tatsache, dass der Komponist ebenfalls Jude ist, etwas unverkrampfter mit der Thematik umzugehen. Herausragend ist die psychologische Erarbeitung der Charaktere sowie der Beziehungsebenen und -konflikte untereinander. Einerseits die Juden mit ihrer strengen Religions- und Moralvorstellung, die der der Christen in nichts nachsteht. Vieles erinnert an Lessings Nathan der Weise. Doch neben dem beherrschenden Religionskonflikt gibt es Liebe, Betrug und Verrat sowie zwei unterschiedliche Vater-Tochter-Beziehungen. Das mündet in einen emotionalen Ausnahmezustand aller Akteure, der am Ende keine Hoffnung oder Rettung mehr zulässt. Sie alle werden Opfer ihrer Anschauungen, ihrer Sichtweisen und ihres Hasses aufeinander.

Neben den Solisten spielt der Chor in diesem Werk nicht nur musikalisch eine essentielle Rolle. Er ist das Volk, der Mob, quer durch die Zeiten. Die Pogrom-Szene im fünften Akt hat sogar ein historisches Vorbild: 1938 zogen bei einem Fastnachtsumzug Konstanzer Bürger als verkleidete emigrierende Juden durch die Stadt und verhohnepipelten die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Mitbürger. Diese Szene ist schockierend und aufwühlend und gleichzeitig dramaturgisch notwendig, zeigt sie doch den Wahnsinn einer fundamentalistisch aufgeheizten Menschenmasse.

Das Bühnenbild von Bert Neumann wirkt zu Beginn fast idyllisch. Auf der einen Seite die christliche Kathedrale, nebenan das Fachwerk-Haus des Juden Eléazar. Dahinter Holzgerüste, die als Wohnung, Versteck oder Kerker dienen. Durch die Drehbühne kann die Szene und damit die Stimmung rasend schnell verändert werden. Schnell wird klar, dass hinter dieser Fassade der brutale Hass und Terror lauert. Die Kostüme von Nina von Mechow passen sich den verschiedenen Zeitebenen an. Von mittelalterlichen Gewändern bis hin zur modernen Freizeitkleidung des Chores ist alles dabei und zeigt, dieses Werk, diese Inszenierung lässt sich weder verorten noch zeitlich fixieren, da die Grundthematik zeitlos aktuell ist.

Doch diese großartige Inszenierung wird erst wirklich lebendig durch ein herausragendes Sängerensemble. Allen voran Gilles Ragon in der Rolle des Juden Eléazar, der eigentlichen Hauptfigur dieses Werkes. Seine Darstellung als zwiespältiger Charakter, einerseits von Hass auf die Christen verblendet, gleichzeitig von einer tiefen Liebe zu seiner angenommenen Tochter Rachel erfüllt, schwankt stets zwischen Rachegefühl und Glück für seine Tochter. Sein charaktervoller und ausdrucksstarker Tenor lässt all diese Gefühlsregungen zu. Seine physische Präsenz ist enorm. Seine Nuancierungen und Phrasierungen unterstreichen seine Seelenqualen. Großartig seine ausdrucksstarke letzte Arie sowie die Duette mit seiner Tochter Rachel. Tatiana Pechnikowa als Tochter Rachel begeistert mit farbenreichem Sopran und klarer Tessitura. Ihren Wandel von der Geliebten zur rachsüchtigen Betrogenen vollzieht sie mit einer immensen Dramatik und starkem Auftritt. Nadia Mchantaf als betrogene Ehefrau Eudoxie begeistert mit klarem Koloratursopran und kokettem Spiel. Dimitry Trunov überzeugt mit sicherem Spinto-Tenor als Verführer Samuel und Ehebrecher Léopold. Liang Li begeistert mit tief tönendem, balsamischem Bass als Kardinal de Brogni und erschüttert durch seinen Wandel vom stolzen Christenführer zum gebrochenen Vater, der um seine verloren geglaubte Tochter trauert. Matthias Henneberg gibt den Aufwiegler Ruggiero mit markantem Bariton, und Allen Boxer lässt als Albert mit schönem Bariton aufhorchen.

Sensationell in spielerischer und gesanglicher Ausgestaltung der von Pablo Assante perfekt einstudierte Staatsopernchor. Hier ist jeder ein Solist, ein eigener Charakter mit großem Engagement. Die eigentlich so weiche und schmeichelnde französische Sprache wird in den Massen- und Pogromszenen fast schon hässlich zum Ausdruck gebracht, was die emotionale Wirkung enorm verstärkt. Tomás Netopil führt die sächsische Staatskapelle mit großem Engagement durch die fast vier Stunden reine Musikzeit. Dabei stellt er sich ganz in den Dienst der Sänger, die er trägt und begleitet. Wunderbar werden die unterschiedlichen Stimmungen und Farben herausgearbeitet, und dem Chor lässt er die Freiheiten, um die erforderliche Dynamik und Ausdruckskraft zu entwickeln. Und so gelingt La Juive auch musikalisch als Große Oper.

Am Schluss ist das Publikum sich in seiner Bewertung und in seinem Jubel für alle Beteiligten einig: Hier ist etwas Großartiges gelungen. Leider verließen doch einige Zuschauer in den Pausen die Oper. Vielleicht waren sie durch die schonungslose Offenheit der Thematik überfordert, vielleicht war es zu lang, vielleicht haben auch einige das Werk und die Inszenierung nicht ganz verstanden. Gemessen an der erlebten Darbietung hätte der Jubel für die Protagonisten durchaus etwas kräftiger ausfallen dürfen.

Der Semperoper Dresden sei für den Mut gedankt, nach Stuttgart dieses wunderbare Werk auf den Spielplan zu setzen. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können!

Andreas H. Hölscher







Fotos: Matthias Creutziger