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Fakten zur Aufführung 

CARMEN
(Georges Bizet)
28. September 2013
(Premiere)

Semperoper Dresden


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Magie der Abstraktion

Die größte Herausforderung an einer Neuinszenierung der Oper Carmen ist der Spagat zwischen Klischeevermeidung und dem bewussten Spiel mit den Klischees, die diese Oper so einzigartig machen. Denn Carmen hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Es geht um Liebe und Eifersucht, um Schuldzuweisungen und Verletzbarkeit, um Stolz und Ehre – Themen, die im emotionalen Alltag immer wieder erscheinen. Und nicht zuletzt geht es auch um Emanzipation. Nicht unbedingt nur um die weibliche, sondern um das Erlangen von Eigenständigkeit an sich. Und das ist Axel Köhlers Annäherung an dieses Sujet in seinem Regiekonzept. Carmen vereint und überhöht gleichzeitig die Eigenschaften, die eine Frau besitzen kann. Sie ist leidenschaftlich bis zur Selbstaufgabe, dreht sinnlich im roten Bereich und erreicht dadurch eine hohe emotionale und gefährliche Fallhöhe. Carmens größter Drang ist es dabei, ihre Freiheit zu erlangen oder zu bewahren, sich unabhängig von den anderen zu machen. Die Dreiecksbeziehung zu Don José und Escamillo ist daher nur die logische Konsequenz aus Carmens Persönlichkeitsstruktur.

Axel Köhler tappt nicht in die Gefälligkeitsfalle, die gerade bei einer Carmen-Inszenierung überall lauert. Er bietet Assoziationsflächen für das Publikum an, ohne dabei unverbindlich zu werden. Seine Personenregie ist von subtiler Charaktersprache geprägt. Hier die leidenschaftliche, sehr weibliche Carmen aus einer sozialen Unterschicht, die nach Freiheit und Anerkennung giert. Don José einerseits, der dieser Frau verfällt und für sie sämtliche Werte, die ihm wichtig waren, über Bord wirft. Escamillo andererseits, der maskuline Star, der Carmen das Gefühl vermittelt, endlich ihr Ziel erreicht zu haben. Und dazwischen Micaèla, als weiblicher Antipode zur Carmen, die aufgrund ihrer Sozialisation ihre eigenen Grenzen nicht zu überwinden mag und deshalb keine wirkliche Rivalin für Carmen ist. Axel Köhler geht von der Rezitativfassung aus, so dass es so gut wie keine langwierigen Dialoge gibt. Das vermeidet Spannungslöcher und verdichtet die Handlung, die sich ganz auf die Musik und das gesungene Wort konzentriert. Köhlers Credo lautet: „So konkret wie nötig und so abstrakt wie möglich.“ Das ist nicht nur auf die szenische Umsetzung bezogen, sondern gilt auch ganz konkret für das Bühnenbild von Arne Walther. Im Mittelpunkt steht ein halboffener Rundbau, der sich immer wieder neu formiert. Er ist Außenfassade und Innenraum der Zigarettenfabrik im ersten Akt und der Stierkampfarena im vierten Akt, es ist die Taverne des Lillas Pastia im zweiten Akt und Schmugglerlager im dritten Akt. Doch all das wird nur angedeutet, Köhler und Walther bieten dem Publikum hier eine Atmosphäre, in der jeder nach seiner eigenen Vorstellung entscheiden kann, was der Raum für ihn bedeutet. Untermalt wird diese Verbindung von Sinnlichkeit und Magie der Abstraktion durch die atmosphärisch anreizende Lichtregie von Fabio Antoci.

Dazu passen die Kostüme von Henrike Bromber, die modern erscheinen. Die Soldaten wirken eher wie eine private Sicherheitstruppe à la Blackwater, zeitlos gefährlich und brutal. Die Arbeiterinnen in der Zigarettenfabrik sind schmuddelig verschwitzt mit ungeheurer erotischer Ausstrahlung. Hier bedient das Regieteam ganz gezielt animalische und archaische Elemente und vermeidet hübsche Klischees. Wunderbarer optischer Kontrapunkt dazu ist der farbenprächtige Einzug der Cuadrillas im vierten Akt, mit klassischen Torero-Kostümen, wie man sie auch heute noch in einer Stierkampfarena zu sehen bekommt. Katrin Wolfram hat nicht nur diesen Aufzug spektakulär choreographiert, sondern vor allem dem Kinderchor in seinen zwei Auftritten ein eigenes Gesicht gegeben.

Es sind die Sängerdarsteller an diesem Abend, die aus einer gewöhnlichen Premiere ein umjubeltes sinnliches Ereignis machen. Anke Vondung als Carmen brennt vor allem im ersten und zweiten Akt ein musikerotisches Feuerwerk ab, ihre Habanera singt sie lasziv mit verführerischem warmen Mezzosopran. Ihr leidenschaftliches Spiel kühlt allerdings zum Schluss etwas ab, ihre Carmen wirkt da in Gestus und sängerischer Darstellung etwas bieder. Genau das Gegenteil erreicht Arnold Rutkowski mit der Partie des Don José. Kurzfristig für den erkrankten Marcello Giordani eingesprungen, verleiht er seiner Partie einen ganz besonderen Charakterzug. Leidenschaft um jeden Preis. Seine Blumenarie ist von betörender Schlichtheit, mit tenoralem Schmelz und sicherer Höhe. Die Veränderung Don Josés vom einfachen verliebten Soldaten zum psychotischen Stalker setzt Rutkowski nicht nur darstellerisch, sondern auch sängerisch mit größtem Einsatz um und wird am Schluss vom Publikum für seine Leistung umjubelt. Emily Dorn, Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper, gefällt als Micàela mit lyrischem glockenreinen Sopran, strahlender Höhe und durchaus kokettem Spiel. Ihre große Arie im dritten Akt singt sie innig und empathisch. Für die junge Sopranistin ist diese Premiere ein Riesenerfolg, der auch vom Publikum lautstark honoriert wird. Kostas Smoriginas überzeugt als maskuliner, tätowierter Escamillo mit Testosteron- getränktem Bariton. Sein Auftrittslied braucht den Vergleich zu großen Namen nicht scheuen. Die Nebenrollen sind an diesem Abend alle herausragend besetzt, so dass das gesamte Ensemble einen großartigen sängerischen und darstellerischen Eindruck hinterlässt.

Der Sächsische Staatsopernchor, einstudiert von Pablo Assante, ist stimmlich gut präsent und durch intensives Spiel in das Gesamtgeschehen integriert. Hervorzuheben ist dabei der Kinderchor der Sächsischen Staatsoper, der durch Andreas Heinze gesanglich und von Katrin Wolfram mit engagierter Choreographie hervorragend aufgestellt einen Sonderapplaus verdient hat. Die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Josep Caballé-Domenech spielt einen intensiven und zugkräftigen Bizet. Schon das bekannte Vorspiel ist flott und eingängig im ersten Teil, im zweiten Teil düster und melancholisch. Die Tempi wechseln, es flirrt und brodelt atmosphärisch im Graben. Werden die Orchestersoli durchaus prägnant und gerade hinaus gespielt, so ist die Begleitung der Sänger ein dienendes, den Gesang unterstreichendes Dirigat und Orchesterspiel. Caballé-Domenech und die Sächsische Staatskapelle Dresden werden zum Schluss ebenfalls umjubelt.

Das Publikum hat an diesem Abend ein besonderes Gespür für die Leistungen im Orchestergraben, auf der Bühne und hinter den Kulissen. Einhellig werden Regieteam, Chor und Orchester sowie das Ensemble mit einem bemerkenswerten fünfzehnminütigen Applaus und vielen bravi bedacht. Dieser Abend hat gezeigt, dass man auch heute eine Carmen modern und begeisternd auf die Bühne bringen kann. Die Magie der Abstraktion funktioniert.

Andreas H. Hölscher

Fotos: Matthias Creutziger