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Fakten zur Aufführung 

ANNA NICOLE
(Mark-Anthony Turnage)
27. April 2013
(Premiere)

Oper Dortmund


Points of Honor                      

Musik

Gesang

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Standing ovations für ein zeitgenössisches Werk sind nicht immer die Regel. Bei einem Stoff, der zumindest auf den ersten Blick nicht operntauglich erscheint, umso mehr. Die Geschichte um Anna Nicole Smith, ein amerikanisches Busenwunder, das vor allem durch seine Drogensucht, Skandale und den jahrelangen Streit um das Milliarden-Erbe des Öl-Magnaten Marshall berühmt wurde, entbehrt allerdings keineswegs der für eine Oper nötigen Tragik. Nicht umsonst nennt man sie die „moderne Traviata“. Das Werk wurde in England an Covent Garden unter vielen Diskussionen uraufgeführt und erlebt nun in Dortmund ihre deutsche Erstaufführung.

Die Oper ist zyklisch angelegt. Sie beginnt und endet mit dem Tod der erst 39-jährigen Anna Nicole, die selber zunächst von außen auf ihr Leben schaut und im weiteren Verlauf noch einmal durchlebt: Ihre Kindheit und Jugend mit der „White Trash“-Familie, die erste Ehe mit 17, aus der Sohn Daniel entstammt, die Flucht nach Houston mit dem Job im Walmart und im Striptease-Club, die schmerzhafte Brust-Vergrößerung und der daraus resultierende Fang in Form des uralten Milliardärs Marshalls, der Rechtsstreit nach dessen Tod, die unglückliche Liebesgeschichte mit Anwalt Stern, Partys, Drogen, Sex, öffentlich gemachte Peinlichkeiten und trotz allem die immerwährende amerikanische Sehnsucht nach Glück. Trotz der durchaus kritischen Auseinandersetzung mit Anna Nicoles Leben kommt man nicht umhin, Sympathie für diese Anti-Heldin zu empfinden, die sich eigentlich nur durch ihre Aktualität von den damaligen Opern-Heldinnen unterscheidet, so wie eben „La Traviata“ – die vom Weg Abgekommene, die auch mit ihrer Schönheit und sexuellen Attraktivität ihr Geld verdient. Moralischer Gegenpol ist Annas Mutter Virgie, die mahnend alle Frauen dazu aufruft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, sie singt: „get rid of your pimps!“ – werdet eure Zuhälter los!

Die Regie von Intendant Jens-Daniel Herzog gerät textnah, was sich als eine gute Entscheidung herausstellt, da das geniale Libretto und die Musik sich unmittelbar aufeinander beziehen. Eine zu losgelöste und aktualisierende Inszenierung hätte nur Verwirrung gestiftet, zumal der Stoff noch keiner Aktualisierung bedarf. Mehr Interpretationsmöglichkeiten liefert das Bühnenbild von Frank Hänig: Die Decke wird von symmetrisch angeordneten Leuchtröhren gestaltet, die in der Mitte einen Stern bilden, der sich drehen lässt und auf der anderen Seite die texanische Flagge präsentiert. Die Bühne wird von grauen Kachelwänden dominiert, die nach dem Start in der Leichenhalle den unvermeidbaren Weg dorthin zurück symbolisieren. Die eher neutrale Gestaltung der Bühne - bis auf die drei Pole-Dance-Stangen im ersten Akt – ermöglicht einen variablen Raum, der sich von der sonstigen Ausstattung je nach Szene zum Beispiel mit Nacktbildern, Kakteen und Mobiliar abhebt. Die Kostüme von Sibylle Gädeke orientieren sich an den 1990-ern der USA. Sie geraten teilweise etwas klischeehaft; beispielsweise hätte die drogensüchtige Cousine, die hier als Punkerin auftreten muss, etwas realitätsnaher gestaltet werden können. Und müssen die Lapdancer tatsächlich mit bunten Perücken ausgestattet werden? Das ist doch sehr abgeschmackt und geradezu langweilig. Die Kostüme von Anna Nicole dagegen erfüllen ihren Zweck: pink, glitzernd, etwas zu eng, sexy und dazu natürlich die obligatorischen platinblonden, aufwändig frisierten Haare.

Der Chor – von Granville Walker aufs Beste vorbereitet – tritt stimmlich stark auf. Trotz der kommentierenden Funktion wie in der griechischen Tragödie, legen die Mitglieder des Opernchores Spielfreude und Ausdruckskraft an den Tag.

Die Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Jac von Stehen, der heute seine letzte Premiere in Dortmund dirigiert, überzeugen in der musikalisch vielseitigen Partitur sowohl in den zeitgenössisch-klangstarken sowie den swingenden Anleihen aus Pop, Musical und Jazz. Aufgrund der großen Anzahl von Musikern, werden vier Musiker auf den Seiten der Bühne platziert.

Gesanglich wird viel geboten. Zwar muss man sich erst an den ungewohnten Klang der verstärkten Stimmen gewöhnen, allerdings wird es einem besonders zum Ende hin bewusst, dass das wohl streckenweise aufgrund des großen Klangapparates und dessen Wucht nötig ist. Aus der großen Fülle an 27 sehr passend besetzten Partien, sind einige hervorzuheben: Kammersänger Hannes Brock als lüsterner Milliardär im Rollstuhl gelingt eine großartige darstellerische wie gesangliche Leistung. Morgan Moody singt die Partie des karriere- und geldgeilen Anwalts Howard Stern souverän und weiß sich auch darstellerisch als Bösewicht natürlich zu bewegen. Christoph Strehl als Trucker und Showmaster Larry King überzeugt eher mit letzterer Partie, die ihm auf den Leib geschneidert scheint. Nur einen kurzen Auftritt, dafür einen, der im Gedächtnis bleibt, hat Gerardo Garciacano als tanzender Billy, Anna Nicoles erster Ehemann. Mezzosopran Katharina Peetz als Annas Mutter begeistert mit einer sauber geführten und einfühlsamen Stimme und überzeugendem Spiel. Tenor John Zuckerman singt ebenfalls zwei Partien und verführt Anna Nicole als Doctor Yes mit sicherer Höhe zu Riesen-Brüsten. Eindeutiger Star des Abends – wie auch zu erwarten – ist die texanische Sängerin Emily Newton, deren kraftvoller Sopran eine große Wandlungsfähigkeit aufweist. Sie schafft die Gratwanderung der Cross-over-Kunst ohne Probleme. Die Partie der Anna Nicole spielt sie sowohl mit Monroe-hafter Grazie als auch mit darstellerischer Stärke in den von Drogen und Peinlichkeiten gezeichneten Szenen.

Die deutsche Erstaufführung – genauer gesagt sogar die Kontinentalpremiere – ist gut besucht. Ein gemischtes Publikum will überzeugt werden und ist am Ende begeistert. Den meisten Applaus bekommt die Hauptdarstellerin, aber auch Kammersänger Hannes Brock, das gesamte Sängerteam, Orchester und Chor. Regieteam, Komponist Mark Anthony Turnage und Librettist Richard Thomas werden herzlich beklatscht und gegen Ende sogar mit standing ovations bedacht. Eine neue Oper, die thematisch gerade aufgrund der tragikgeladenen modernen Story, ihrer musikalisch genialen Umsetzung und des zum Glück nicht abgehobenen Librettos auf ganzer Linie überzeugt.

Miriam Rosenbohm







Fotos: Thomas M. Jauk