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Fakten zur Aufführung 

WOZZECK
(Manfred Gurlitt/Alban Berg)
18. Januar 2014
(Premiere am 27. Oktober 2013)

Staatstheater Darmstadt


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Purismus und Klangfülle

Die Kunstszene wird im vergangenen Herbst vom „Fall Gurlitt“ erschüttert, dem Fund von NS-Raubkunst in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt. Fast gleichzeitig bringt das Staatstheater Darmstadt Manfred Gurlitts Wozzeck, seine fast vergessene „Musikalische Tragödie“ nach dem Fragment Georg Büchners, auf die Bühne. Eine geniale PR-Idee? Das kausal nicht verknüpfte Zusammentreffen von Ereignissen, gemeinhin Zufall genannt? Und wie realisiert angesichts der langen Vorlaufzeiten von Musiktheaterproduktionen? Die Auflösung zielt in eine andere Richtung, ist frei von Sensationen und letztlich plausibel.

Den Komponisten Manfred Gurlitt zeichnet eine schillernde Künstlerbiographie aus, insbesondere auf Grund seiner Emigration vor dem nationalsozialistischen Regime 1939 nach Tokio. Er ist aber nur marginal der Kunsthändler-Dynastie um Hildebrand Gurlitt zuzurechnen, die die Öffentlichkeit elektrisiert. 2013 gedenken Theater, Kunsthallen und andere Kulturinstitutionen Büchners anlässlich seines Geburtstags vor 200 Jahren. Darmstadt ist wie Gießen ein besonderer Schauplatz dieses Jubiläumsjahres Der Schriftsteller, Mediziner und Revolutionär, einer der Exponenten des Vormärz, hat bis zu seiner Flucht nach Straßburg und später Zürich in Darmstadt gelebt und hier an seinem Stück Woyzeck gearbeitet. Die auf losen Blättern hinterlassenen 26 Szenen sind der Musikwelt durch Alban Bergs Opernvertonung Wozzeck ein Begriff, die sich als Klassiker des musikalischen Expressionismus etabliert hat. John Dew, Intendant des Darmstädter Hauses, räumt ein, den Gurlitt-Stoff selbst erst zwei Jahre vor der Premiere entdeckt zu haben. Auf dem Hintergrund des Büchner-Jubiläums dann aber der zündende Funke: „Mir wurde klar, dass es ein extrem aufregendes Projekt wäre, beide Stücke am gleichen Abend vorzustellen.“ Das ist keine Übertreibung. Die Darmstädter Großtat ist ein formidables Ereignis des vergangenen Bühnenjahres und ein neuerlicher Beleg für die Innovationskraft der Opernhäuser in den Regionen. Handelte es sich um ein Fernsehspiel, wäre dieser Doppel-Wozzeck dringend Grimme-Preis-verdächtig.

Büchner hat der authentische Fall des stellenlosen, geistig beschränkten Friseurs Woyzeck zu Leipzig, der seine gelegentliche Geliebte tötet und dafür öffentlich hingerichtet wird, als willkommene Vorlage für die Fundierung seiner politischen Ideen gereizt. In seiner im Stil einer politischen Sozialreportage gefassten Szenenfolge zerbricht der Regimentsgehilfe an der Brutalität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sozialen Kälte eines in überkommenen Hierarchien erstarrten Milieus, sieht letztlich den einzigen Ausweg im Tod. Büchners Bühnendrama ist die Lebens- und Krankengeschichte des kleinen Mannes, der – vom Hauptmann gepeinigt, vom Arzt missbraucht und von Marie, der Mutter seines unehelichen Kindes, betrogen – in den Abgrund des Menschen und der Menschheit schaut.

Gurlitt und Berg haben in ihrer jeweiligen Adaption des Stoffes unter Auswahl unterschiedlicher Szenen aus dem Theaterbilderbogen zeitnah, aber unabhängig voneinander auf Büchners plakative Dramaturgie der Unausweichlichkeit eine adäquate kompositorische Antwort gesucht. Bergs Werk, im Dezember 1925 an der Staatsoper Berlin uraufgeführt, und Gurlitts Wozzeck, rund vier Monate später vom Stadttheater Bremen herausgebracht, erscheinen uns heute als radikale Avantgarde. Dabei unterscheiden sich die beiden Kompositionen in der speziellen Formsprache sowie in der materiellen Durchdringung und im künstlerischen Rang deutlich. Ihnen gemeinsam zu eigen ist die entschlossene Abkehr von Richard Wagners Musikdrama und der Versuch seiner konsequenten Überwindung. Nicht nur für Opernspezialisten vom Feinsten: Während der Humperdinck-Schüler Gurlitt dem Kosmos der Tonalität prinzipiell verbunden bleibt und mit polyphonen und ostinaten Formen experimentiert, sprengt der Schönberg-Schüler Berg im krassen Widerspruch zu Wagners Leitmotivik alle traditionellen Stile, mixt diatonische Elemente mit strengen Formprinzipien wie Sinfonie, Fuge, Sonate, Passacaglia und solchen, die der Zwölfton-Systematik entlehnt sind.Seit bald 90 Jahren polarisiert das zwischen semiromantischer und freier Tonalität navigierende und mit absoluten Dimensionen der Instrumentalmusik spielende Opus das Publikum weltweit.

Die große Leistung des Staatsorchesters Darmstadt unter der musikalischen Leitung von Martin Lukas Meister besteht darin, der Eigenständigkeit und Raffinesse der beiden Partituren so zu folgen, als hätten wir es mit autonomen Skulpturen zu tun, die lediglich einer gemeinsamen Idee als Grundriss entsprungen sind. Eher Kammeroper das Genre bei Gurlitt. Eher großer Opernzirkus das bei Berg. Subtil, hell, feingewirkt und durchsichtig, Pastellfarben herbeizaubernd, legt Meister seine Interpretation der Gurlitt-Komposition an. Mit verstörenden Celli-und Bläserpassagen, etwa bei der bedrückenden Wozzeck-Beschwörung des Abgrunds allen Menschseins. Gewaltig und grell in den expressiven Ausbrüchen, berührend und sich im Piano der Atemlosigkeit verzehrend, greift uns Meisters Vermittlung der Berg-Oper an. Nun ist es ja gerade das Geheimnis des Musikrevolutionärs Berg, dass er zwar über dem Bühnengeschehen und seinen Akteuren ein komplexes Gerüst an Formen und Stilen auftürmt, diesem aber niemals mehr Relevanz und Ausdruck erlaubt als den handelnden Akteuren gemäß.

Was Meisters Meisterwerk zu Darmstadt auch aufzeigt: Entgegen mancher Vorerwartung oder manchem Vorurteil ist das Ganze nicht ohne Kantabilität. Das Ensemble meistert die komplexen, auch schauspielerisch fordernden Partien durchweg bravourös. Weder Gurlitt noch Berg haben gezögert, den singenden Protagonisten hitzige Leidenschaft und eiskaltes Verharren abzuverlangen, eklatante Diskrepanzen in rasend schnell aufeinander folgenden Tonhöhen und Tonfolgen jenseits aller gewohnten Harmonien. Auch den Nebenrollen wohnt gar nichts „Leichtes“ inne. Wenn es überhaupt angezeigt ist, aus dem Doppel-Ensemble Solisten hervorzuheben, dann der sängerisch wie schauspielerisch beeindruckende Bariton David Pichlmaier als Gurlitt-Wozzeck und die Sopranistin Yamina Maamar als Marie in der Berg-Oper mit bestechenden Höhen. Der sparsam, aber dramaturgisch auf den Punkt agierende Chor überzeugt in beiden Teilen des Abends. Besonders in der atemlose Stille im Publikum auslösenden Sequenz Wir armen Leut‘ in der Gurlitt-Fassung.

Reduktion ist bei Büchner, bei Berg und Gurlitt das sie letztlich alle einende künstlerische Prinzip, Reduktion des Geschehens auf das bisschen Leben und die blindwütige Zerstörung des armen Wozzeck. Dieser Reduktion ist auch das Regiekonzept Dews für den doppelten Wozzeck unterworfen. In den zumeist karg und dunkel gehaltenen Bühnenbildern Dirk Hofackers mit wandelbaren Raum- und Leiterelementen vollzieht sich das Drama nach Mustern eines „Doppel-Tatorts“ in der Oper, als den man das Projekt auch verstehen kann. Exakt so hat es Franz Grundheber, die Verkörperung des Wozzeck seit 1980 auf allen großen Bühnen, 2007 bei seinem Regiedebüt mit dem Berg-Stück in Trier auch inszeniert. Gezeigt, ausgestellt wird im Theaterstück und in beiden Opern die Determination von Mensch und Gesellschaft. Alles andere ist Luxus, überflüssig. Wenn Dew in den Wirtshaus- und Tanzszenen in der Berg-Version die Darmstädter Statisten in ironisierenden Brechungen zu den musikalisch verdrehten Tänzen und Märschen der vermeintlich besseren Gesellschaft rotieren lässt, so dienen auch diese eindrucksvollen Bilder einzig der Aufklärung. Ähnlich die markante Lichtregie Dews und seines Teams. Mal verstärkend wie das Blutrot, in das die erstochene Marie vom Bühnenboden aus getaucht wird. Mal erschreckend wie das grelle Gelb-Weiß am überdimensionalen Tisch im Wirtshaus, das die Gesichter der Phalanx von Soldaten zu Fratzen verzerrt.

Das Darmstädter Publikum folgt dem mit einer Aufführungsdauer von mehr als drei Stunden nicht unstrapaziösen Doppel-Wozzeck mit großem Ernst, Konzentration und Disziplin. Einhelliger anhaltender Applaus schlussendlich allen Akteuren beider Inszenierungen. Bemerkenswert nicht zuletzt die vielen jungen Leute, die das Erscheinungsbild des Staatstheaters am besuchten Abend mitprägen. Wie zu hören ist, hat die Akademie für Tonkunst Darmstadt zur Mobilisierung beigetragen. Berg und ganz besonders Gurlitt, der sein Leben lang unter einem Mangel an Wahrnehmung und Anerkennung litt, hätten sich darüber gefreut. Ganz sicher.

Ralf Siepmann





Fotos: Barbara Aumüller