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Fakten zur Aufführung 

AU MONDE
(Philippe Boesmans)
3. April 2014
(Premiere am 30. März 2014)

La Monnaie, Brüssel


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Totentanz ins Ungewisse

Er gilt als der Hauskomponist der Brüsseler Oper. Gerard Mortier und Luc Bondy schätzten ihn und jetzt wurde in der prächtigen Monnaie sogar eine Ehrentafel mit seinem Namen eingelassen, in direkter Nachbarschaft zu den ganz Großen von Mozart bis Janáček. Philippe Boesmans, mittlerweile 77 Jahre alt, erntete auch mit seiner sechsten Oper, Au Monde, in der Monnaie einen Riesenerfolg. Nicht nur bei der Uraufführung, sondern auch in den überaus gut besuchten Reprisen. Er darf, mindestens ebenbürtig zu Henri Pousseur und André Laporte, als derzeit bester Komponist Belgiens gelten, und es erstaunt, dass seine durchweg repertoiretauglichen Werke in Deutschland kaum Beachtung finden. Man muss sich allerdings damit abfinden, dass sich Boesmans mit traditionellen Formen der guten alten Literatur-Oper begnügt, ohne dem zeitgenössischen Musiktheater neue dramaturgische Akzente zu verleihen.

Gleichwohl: Boesmans fasziniert durch seinen filigranen Klangsinn, sein psychologisches Fingerspitzengefühl und seinen musikdramatischen Instinkt. Damit kann er auch eine Geschichte mit einer ausschließlich nach innen verlagerten Handlung zwei pausenlose Stunden unter Spannung halten, in denen die Figuren die Fassaden ihrer heilen Welt allmählich einreißen. Eine Handlung, zersplittert in kleine Psycho-Dramen ohne Action und Bühnenzauber. Ein Szenario, das an Tschechows Abgesänge auf versinkende Zeiten erinnert, wobei sich allerdings Tschechows Dramen mit ihrem Sprach-Duktus und den langsamen, pausendurchsetzten Tempi opernhaften Vertonungen weitgehend verschließen. Peter Eötvös‘ recht erfolgreiche Vertonung der Drei Schwestern macht da keine Ausnahme. Die Musik bringt allenfalls eine störende Unruhe ins Spiel, die den genialen Text banalisiert.

Anders Philippe Boesmans, der sich stets dezent zurückhält und mit sparsamen, wenn auch raffiniert kunstvollen Klängen die Brüchigkeit des Familienidylls hörbar werden lässt, ohne die dekadent-lastende Stimmung zu überdecken. Feine Klangmischungen mit Celesta und Harfe hellen den dunklen, unheilvollen Grundton der Partitur auf. Da klingt einiges von Debussy nach, und in einem zarten Violinsolo auch manches von Richard Strauss, ohne auch nur in einem Takt die Eigenständigkeit von Boesmans Tonsprache zu gefährden. Besonderes Kolorit erhält die Musik durch ein dezent eingesetztes Akkordeon. Und dass die Klänge nicht zerflattern, dafür sorgt ein rhythmisierter Pulsschlag, der wie ein Metronom die Unaufhaltsamkeit des Untergangs ankündigt.

Ähnlich sensibel geht er mit den Singstimmen um, denen Boesmans viel abverlangt. Doch selbst expressive Monologe verlieren sich nicht in vokaler Selbstdarstellung, und die deklamatorischen Passagen gleiten nie in unverbindliche Geschwätzigkeit ab.

Auch wenn der französische Dramatiker Joël Pommerat kein zweiter Tschechow ist: Ihm ist mit dem Libretto das glänzendes Portrait einer Familie gelungen, deren alternder Patriarch nicht erkennen will, dass sich die Zeiten ändern und nicht jedes seiner denkbar unterschiedlich geratenen Kinder das Leben in einer Gruft voller Illusionen so prinzipientreu fortsetzen will wie er selbst.

Die Handlung kreist um Ängste, Ahnungen und Hoffnungen. Der jüngste Sohn der Industriellenfamilie, Ori, kehrt nach erfolgreichen Jahren beim Militär zum ersten Mal wieder zu seinem Vater und seinen Geschwistern zurück. Er will etwas Neues, etwas Echtes beginnen, scheut sich aber, dem Wunsch des Vaters nachzukommen und die Unternehmensleitung zu übernehmen, an der auch Oris Schwager interessiert ist. Das Verhältnis zwischen Ori und seiner schwangeren älteren Schwester ist ebenso verdächtig eng wie das zwischen dem Vater und der Jüngsten der drei Schwestern. Die Mittlere ist eine berühmte Fernsehmoderatorin auf der Suche nach neuen Formaten. Zuneigung, Konkurrenz, Hass bestimmen das Familienleben. Seelen, irritiert und teilweise orientierungslos nach dem Sinn ihrer Existenz ringend. Zu einem dramatischen Finale kommt es nicht. Das Ende bleibt offen.

Die gleißend schillernde, hintergründig brodelnde Partitur leuchtet Patrick Davin mit dem Orchestre symphonique de la Monnaie vorbildlich aus. Erstklassig das Ensemble mit vorzüglichen Sängerdarstellern ohne eine einzige Fehlbesetzung. Patricia Petibon als mittlere Schwester bewältigt ihre besonders differenziert geformte und mit großen Monologen ausgestattete Partie mit Bravour. Stephane Degout als „verlorener“ Sohn Ori strahlt die fröstelnde Distanz eines „Fliegenden Holländers“ aus. Vorbildlich, mit welcher Konsequenz er das Rollenprofil bis zum letzten Takt ausspielt. Die Gebrochenheit hinter der selbstbewussten Fassade des Vaters ist bei Frode Olsen bestens aufgehoben. Charlotte Hellekant und Fflur Wyn als jüngste beziehungweise älteste Tochter sowie Werner van Mechelen als ehrgeiziger Schwiegersohn runden das exzellente Ensemble ab.

Die Regie ließ sich Librettist Pommerat nicht nehmen. Auf der leeren, schwarzen, gelegentlich durch kleine Schlitze in der Rückwand aufgehellten Bühne von Éric Soyer führt er die Figuren so diszipliniert wie Schachfiguren. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, vollzieht die äußerlich erfolgreiche, innerlich völlig zerrissene Gesellschaft einen Totentanz, der in eine ungewisse Leere führt, Bartóks Blaubart-Oper oder Debussys Pelléas nicht unähnlich.

Ein weiterer Erfolg für Philippe Boesmans, einen der interessantesten, in Deutschland leider viel zu wenig wahrgenommenen Musikdramatiker der Gegenwart.

Pedro Obiera

Fotos: Bernd Uhlig